Peloton bei der Tour de la Provence

Radsport | World Tour Abstiegskampf im Radsport: Sammeln statt Jagen

Stand: 18.02.2022 08:00 Uhr

Das Punktesystem der UCI könnte in diesem Jahr zu sehr merkwürdigen Rennkonstellationen im Radsport führen. Punkte werden wichtiger als Siege, weil zum Ende der Saison die Teamwertung über die Lizenzen für die nächsten drei Jahre mitentscheidet. 

Von Tom Mustroph

Der Druck ist groß im Abstiegskampf: Teams, die am Ende der Saison in der Punktewertung des Weltradsportverbandes UCI unter den ersten 18 geführt werden, ergattern eine Lizenz für die World-Tour und haben damit Planungssicherheit für die kommenden drei Jahre. Die anderen steigen in die zweite Reihe ab. Sie sind damit bei den wichtigsten Klassikern und den großen Rundfahrten wie der Tour de France auf die raren Wildcards der Veranstalter angewiesen.

Auf einem der Abstiegsränge

Ein Abstieg mit möglicherweise verheerenden Folgen: Weil die Sponsoren der Radsport-Teams etwa 70 Prozent des Werbewerts allein bei der Tour de France erzielen, droht diesen Mannschaften die rasende Flucht ihrer Geldgeber. Daher macht sich Sorge breit. "Wir sind jetzt auf einem der Abstiegsränge", konstatiert der deutsche Radprofi Roger Kluge vom belgischen Team Lotto Soudal.

Die Equipe um Topsprinter Caleb Ewan holte in den vergangenen beiden Jahren 7.935 Punkte. In der laufenden Saison kamen bislang 667 Punkte hinzu. Das bedeutet aktuell Platz 20 in der Mannschaftswertung der vergangenen drei Jahre. Diese Platzierung ist - so sagt das UCI-Reglement unter Punkt 2.15.011 - genau dann ausschlaggebend für die Vergabe der neuen Lizenzen, sollten mehr als 18 Bewerber die Vorgaben in den vier anderen Bereichen – ethisch, finanziell, organisatorisch und administrativ - erfüllen.

Dass sich mehr als 18 Rennställe um einen Platz in der World-Tour bewerben, ist sicher. Die Mannschaftswertung wird also zum Zünglein an der Waage. "Ja, wir müssen Punkte sammeln", stellt Kluge fest.

Algorithmen für den Rennkalender

Weil das auch anderen Teams so geht, die entweder den Abstieg verhindern wollen oder im Gegenzug den Aufstieg anpeilen - wie etwa der französische Rennstall Arkea Samsic, mit 1.149 Punkten mehr als Lotto Soudal derzeit auf Position 16 geführt, gesellt sich zum sportlichen Wettbewerb um Siege in dieser Saison der blanke Existenzkampf um Punkte. 

"Ich kenne das ja noch aus meiner Zeit bei Dimension Data, als es um die Lizenz ging. Da gibt es Leute, die Algorithmen entwickeln, bei welchen Rennen die Wahrscheinlichkeit groß ist, Punkte zu machen", erzählt Rolf Aldag, Sportdirektor bei Bora hansgrohe, der Sportschau.

Der Hang zu mathematischen Modellierungen ist nachvollziehbar. Denn das Punktesystem der UCI ist komplex: Wer die Tour de France gewinnt, darf sich 1.000 Punkte gutschreiben, die Sieger bei Giro d’Italia und Vuelta a Espana 850 Punkte, Sieger der Klassiker-Monumente wie Mailand-San Remo 500. Für einen Tagessieg bei der Tour gibt es 120 Punkte, bei Giro und Vuelta deren 100.

Bei kleinen Eintagesrennen der Kategorie 1.1 hingegen wird der Sieger mit 125 Punkten prämiert. Dabei handelt es sich um Rennen wie die zu Saisonbeginn auf Mallorca ausgetragene Rennserie. "Da kann es dann schon sein, dass man ein B-Team zur Tour de France schickt und das A-Team zur gleichen Zeit zu Rennen nach Ungarn oder Rumänien, weil dort die Punkte leichter zu holen sind", prognostiziert Aldag. 

Punkte aus der Gruppe statt für den Etappensieg

Für seinen aktuellen Rennstall Bora hansgrohe sind solche Überlegungen aufgrund des soliden Punktepolsters nicht nötig. Auch Lotto Soudal wird mit Top-Sprinter Ewan die große Bühne in Frankreich suchen und nur seine B-Truppe über die Dörfer schicken. Aber Kluge denkt schon, dass er in dieser Saison auch abseits der großen Rundfahrten seinen schnellen Chef Ewan öfter als üblich bei Ritten durch die Radsportprovinz begleiten wird.

Sportschau Tourfunk, 10.01.2022 15:15 Uhr

Auch auf die Renntaktik dürfte die Punktejagd Auswirkungen haben. "Wir werden jetzt nicht andere Teams, die ebenfalls hinten drin stehen, in Manndeckung nehmen. Es geht ja immer noch darum, Siege gegen alle zu holen. Dann ist man automatisch vorn. Aber bei Fluchtgruppen in Etappenrennen kann es schon sein, dass man überlegt, statt auf den Tagessieg zu gehen, zwei Fahrer in der Gruppe zu platzieren", überlegt Kluge.

Dann fährt ein klassisches Sprinterteam auf einmal nicht mehr die Lücke zu, sondern setzt darauf, dass die beiden Fahrer vorne die Zähler für die Plätze vier und sechs einsammeln, was mehr Punkte einbringt als der Sieg des Sprinters. Außerdem dürfte das Gerangel bei den Sprints zunehmen. Manch ein Anfahrer erhält plötzlich die Aufgabe, ebenfalls durchzuziehen für ein paar Punkte  – und steht so den Top-Sprintern anderer Teams möglicherweise im Wege.

Ambitionen der Auf- und Absteiger

Solcherart Rennen im Rennen sind allerdings nur für ein halbes Dutzend Teams interessant. Die derzeitigen World-Tour-Teams Lotto Soudal, Cofidis und Intermarché Wanty Gobert sind am stärksten vom Abstieg bedroht. Aufstiegsambitionen haben neben Arkea Samsic die französische Mannschaft TotalEnergies und das norwegische Team Uno-X, die in der Punktwertung derzeit jedoch einen größeren Rückstand haben.

Nur für drei dieser Teams dürfte die Rechnung am Ende aufgehen. Eventuell für ein viertes, sollte der in der Punktewertung weit vorn liegende Zweitdivisionär Alpecin-Fenix um den niederländischen Topstar Mathieu van der Poel weiter mit seiner Zweitklassigkeit zufrieden sein.

Das ist durchaus möglich, denn das belgische Team spart Geld, wenn es in der zweiten Kategorie bleibt. Und als bestes ProContinental-Team hat es ebenfalls das automatische Teilnahmerecht an den großen Rennen. Viele seiner mehr als 13.000 Punkte aus den vergangenen Jahren holte sich das Team bei Provinzrennen wie der Elfstedenronde in Belgien oder Paris-Chauny in Frankreich. 

Goldenes Jahr für kleine Rennveranstalter?

Die Saison 2022 könnte daher zum Glücksjahr für kleine Rennveranstalter werden. Denn für einige WorldTour-Teams werden Per Sempre Alfredo in Italien oder Slag om Norg in den Niederlanden wegen der Punkte hochattraktiv. In Deutschland könnte Rund um Köln profitieren. Auch dort erhält der Sieger 125 Punkte – fünf mehr als ein Etappensieger bei der Tour.

Sportschau Tourfunk, 07.02.2022 10:00 Uhr