Radsport | Giro d'Italia Vincenzo Nibali: Letzte Flossenschläge des "Hais von Messina"

Stand: 23.05.2022 07:44 Uhr

Er hat die Tour de France gewonnen, den Giro d’italia gleich zwei Mal, auch die Vuelta a Espana und den Sprintklassiker Mailand – Sanremo. In Italien steht er auf einer Stufe mit dem legendären Marco Pantani. Im Gegensatz zum einsam gestorbenen il pirata lebt der "Hai von Messina" aber noch und zelebriert gerade beim Giro d’Italia einen bewegenden Abschied vom Profisport.

Von Tom Mustroph (Rivarolo Canavese)

Tritt Vincenzo Nibali bei diesem Giro d’Italia in die Pedalen, dann entfliehen Schreie der Begeisterung den Kehlen der Umstehenden. Nicht nur die, die das Glück haben, direkt an der Strecke diesen Moment zu erleben, geraten völlig aus dem Häuschen. Auch an weiter entfernten Stellen des Parcours ist das so. Dann sind die großen Fernsehmonitore Auslöser der Begeisterung oder die volltönende Stimme der Streckensprechers.

Regelrechte Schreiwellen waren am Samstag (21.05.22) zu vernehmen. Da schlug der Giro d’Italia eine Schleife um die alte Hauptstadt Turin. Nibali, der letzte Tour de France-Sieger Italiens, zeigte sich in bestechender Angriffslaune. Er war nicht nur gut positioniert, als eine monumentale Attacke von Bora-hansgrohe das Peloton auseinanderriss. Er war auch später einer der Aktivsten, um den zwischenzeitlich enteilten Richard Carapaz wieder einzufangen. Und er setzte selbst immer wieder zu jenen Attacken an, die zu Jubelstürmen entlang des Parcours führten.

Weihnachtsstimmung im Mai

Nibali ist derzeit in einer Art väterlicher Geberstimmung. "Ich möchte denen Geschenke machen, die mich in der letzten Jahren so großartig unterstützen, mit den Bannern am Straßenrand, den ermunternden Zurufen, dem Beifall", sagte er. Unter Geschenken versteht der 37-Jährige Bravourtaten auf dem Rad.

Etappensiege etwa wie jenen zu den Drei Zinnen von Lavaredo. Mit dieser Solofahrt zwischen den Schnee bedeckten Gipfeln der Dolomiten zementierte er 2013 seinen ersten Gesamtsieg beim Giro. Das rosa Trikot, das er da schon trug, bildete einen reizvollen Kontrast zu den weißen Wänden ringsum.

Schnee ist in diesem Mai nicht zu erwarten. Mit Rosa wird es auch schwierig. Ausgerechnet an seinem Hausberg, dem Vulkan Ätna, ließ er sich mehr als zwei Minuten abnehmen. "Das war nicht mein Tag, und nicht der meines Teams", sagte er geknickt.

Mentaler Befreiungsschlag durch Abschiedsankündigung

Danach ging es aber aufwärts. Die Form, die er wegen einer Covid-Infektion im Februar nicht wie geplant aufbauen konnte, kommt jetzt langsam. Vor allem aber scheint sich der "Hai von Messina" mental befreit zu haben. Am Tag nach dem Ätna, als die Folgeetappe in seiner Heimatstadt Messina endete, nutzte er die Bühne, die ihm der Giro bot, um das Karrierende zum Ende dieser Saison anzukündigen.

Sportschau Tourfunk, 16.05.2022 16:00 Uhr

Seitdem geht es sportlich aufwärts. Auf der 9. Etappe hoch zum Blockhaus blieb er lange in Sichtweite der Besten. Am Samstag war er selbst einer der Besten. Sein Teamchef Alexander Winokurow hält sogar noch Platz 3 im Abschlussklassement für möglich, sagte der Kasache der Sportschau.

Giuseppe Martinelli, langjähriger sportlicher Leiter Nibalis und im Begleitwagen bei fast allen großen Siegen des Sizilianers, hält die Konzentration auf Etappensiege allerdings für Erfolg versprechender. "Einen Etappensieg an einem besonderen Tag hat Vincenzo immer drin", sagte Martinelli der Sportschau.

Alternder Hai wie alter Wein

Er sieht die Rückkehr Nibalis zu Astana nach mehreren Jahren bei den Rennställen Bahrain Merida und Trek Segafredo zu reduzierten Bezügen nicht nur als eine Heimkehr des Athleten. "Es ist auch ein gegenseitiges Geschenk. Vincenzo schenkt uns noch eine Saison mit ihm und wir schenken ihm eine Saison mit einem Wettkampfkalender nach seinen Vorstellungen", meinte Martinelli.

Es sind also alle in Geberlaune derzeit. Die letzte Heimatrundfahrt des Italieners nimmt daher das Format einer Weinprobe an. So, wie man den Rebensaft kostet, ihn zwischen Gaumen und Zunge hält, um den Genuss auszudehnen, schaut man jetzt auch auf die Antritte dieses Stilisten auf dem Rad und erfreut sich an seinem Renninstinkt. Große Aktionen erwartet man nicht jeden Tag, weil man ja auch nicht jeden Tag einen alten Wein entkorkt.

Instinkt fürs Timing

Mit seiner Abschiedsankündigung beweist Nibali ein gutes Händchen fürs Timing einer Karriere. Seine goldene Zeit ist vorbei. Er hört aber zu einer Zeit auf, in der er noch wettkampffähig ist und nicht von Mitleid umweht, wie Chris Froome, der sieben Monate jüngere Dauerrivale des letzten Jahrzehnts.

Aus all diesen Gründen webt sich in das rosa Rennen des Giro d’Italia auch ein blauer Farbstreifen der Melancholie. Nibali gehört zu den wenigen Akteuren des Radsports, die im Laufe ihrer Karriere alle drei großen Landesrundfahrten gewonnen haben. 2010 siegte er bei der Vuelta, 2013 feierte der erste von zwei Giro-Siegen und 2014 gewann er souverän die Tour de France.

Nachfolger nicht in Sicht

Während seiner mittlerweile 17 Jahre im Profipeloton gelang es Nibali, niemals tiefer in eine Dopingaffäre verstrickt zu sein. Er fuhr selbst bei Affärenteams wie Liquigas, Astana und Bahrain - aber an der Haut des Hais blieb niemals etwas hängen. Eine beachtliche Leistung auch das.

Italien nimmt also Abschied von einem Großen, der selbst die Zeichen der Zeit zu erkennen weiß, und für den weit und breit kein Nachfolger im Lande in Sicht ist. Bester Klassementfahrer neben Nibali ist derzeit der zwei Jahre ältere Domenico Pozzovivo. Auch diese Tatsache macht den Abschiedsgiro des Vincenzo Nibali so besonders.

Noch eine große Rundfahrt, Tour oder Vuelta, will Nibali im Laufe der Saison fahren. Die Lombardeirundfahrt im Herbst wird wohl die letzte große Bühne sein. "da bereiten wir wieder etwas Besonderes vor", sagte der Streckenplaner von Giro und Lombardia, Stefano Allocchio, der Sportschau. Den Giro brachte Allocchio schon in die Heimat Nibalis. Die Lombardei ist zu weit entfernt. Aber Geschenke an den nationalen Helden und Sonderwerbeträger des rosa Unternehmens wird es sicher geben.