Däne holt den Toursieg Jonas Vingegaard - Schmächtiger Junge auf dem Gipfel
Der Däne Jonas Vingegaard hat die Tour de France 2022 gewonnen. Zum Radsport kam er, weil er als schmächtiges Kind beim Fußball nie den Ball bekam.
Eine gute Stunde nachdem am Samstag (23.07.2022) der Triumph endgültig feststand, der am Sonntag in Paris noch formal besiegelt wurde, betrat Jonas Vingegaard eine schäbige Wellblechsporthalle in Gramat. Die großen Gefühle im Ziel der 20. Etappe in Rocamadour, die Tränen seiner Lebensgefährtin Trine, der Kuss für seine Tochter Frieda, die Schluchzer seines Teamkollegen Wout van Aert, die innigen Umarmungen der anderen Teammitglieder - das alles war in dieser profanen Umgebung weit weg.
Großer Rummel um den Familienmenschen
Vingegaard, der Sieger der Tour de France 2022, saß nun also dort an diesem tristen Ort, an den sie ihn nach dem Zeitfahren der 20. Etappe gebracht hatten, und sollte sich erklären. "Ich bin ein Familienmensch, ich verbringe meine Zeit gerne mit meiner Freundin und meiner Tochter. Die beiden sind mir das Wichtigste", sagte Vingegaard also. Und alle weiteren Versuche, ein bisschen mehr zu erfahren, scheiterten.
Sein Teamkollege van Aert, der das Zeitfahren gewonnnen hatte, weil Vingegaard seine Fahrt auf den letzten 300 Metern grinsend austrudeln ließ, konnte ebenfalls keine weiteren Facetten beisteuern. "Er ist sehr dankbar, bodenständig", erzählte der Belgier. So ist es wohl: Ein schillernder Star ist der Mann, der das Gelbe Trikot in diesem Jahr mit nach Hause nimmt, nicht. Aber mit der Ruhe dürfte es von nun an vorbei sein, angesichts der Begeisterung, die sein Triumph in Dänemark ausgelöst hat.
"Es wird verrückt werden", ahnt Vingegaard. Die Frage wird sein, wie dieser schmächtige Mann all den Rummel verkraften wird. Vingegaard wirkt immer ein bisschen kränklich, fast zerbrechlich. Blass ist er, die Augen sitzen tief in ihren Höhlen, und um den Mund herum graben sich zwei tiefe Falten ein, wenn er spricht oder lächelt.
Erfolgreich ohne die anderen
Man kann sich gut vorstellen, wie das war damals auf dem Fußballplatz in dem kleinen Dorf Hillerslev im Norden Dänemarks, als die anderen Jungs dem kleingewachsenen Jonas den Ball nicht zuspielten, weil er nicht robust genug war, um diesen dann auch zu behaupten. Auf dem Fahrrad dagegen war er nicht auf die anderen angewiesen.
Mit dem Radsport kam Jonas Vingegaard 2007 erstmals in Berührung. Damals machte die Dänemark-Rundfahrt Station in Thisted nicht weit von seinem Heimatort. Bei einem Test des örtlichen Radsportvereins hatten Kinder eine Minute Zeit, um so weit wie möglich zu kommen. Vingegaard kam am weitesten - es war der erste Erfolg auf dem Rad für ihn.
Dass aus dem kleingewachsenen Jungen einmal der Sieger des größten Radrennens der Welt werden würde, war dennoch lange nicht absehbar. Sehr erfolgreich war er in seiner Jugend nicht. "Er kam sehr spät in die Pubertät, erst mit über 17 Jahren, und vorher hat er nie gewonnen", hat sein Vater Claus der französischen Sportzeitung "L' Équipe" erzählt. Im örtlichen Radklub habe man Angst gehabt, er könne wegfliegen, wenn der Wind an der Nordsee zu stark blies. "Es war sehr schwer für ihn, aber er hielt durch. Das Radfahren hat ihm wirklich Spaß gemacht."
Schichten in der Fischfabrik
Diese Zähigkeit, der Wille durchzuhalten, ist wohl die wichtigste Charaktereigenschaft, die Vingegaard mitbringt. Und die ihm nun auch zum größten Sieg verholfen hat, der im Radsport möglich ist. Bevor Vingegaard vom Team Jumbo-Visma verpflichtet wurde, fuhr er für das Continental Team ColoQuick. Nebenbei arbeitete er damals in einer Fischfabrik, legte den Fang auf Eis. Sein Training absolvierte er nach der Schicht, die um sechs Uhr morgens begann und mittags endete.
Sein jetziger Teamchef Merijn Zeeman glaubt, dass ihm diese Erfahrung nun als Radprofi zugutekommt, weil er die Härte des Alltags als Arbeiter kennt. Zum Kapitän des Teams ist Vingegaard jedoch erst durch die Missgeschicke von Primoz Roglic geworden. Der Slowene, dem sein Landsmann Tadej Pogacar 2020 den schon sicher geglaubten Toursieg im letzten Moment entriss, stürzte im vergangenen Jahr in der ersten Woche aus dem Rennen. Danach war es Vingegaard, der in den Bergen zumindest ansatzweise mit Pogacar mithielt und am Ende als Gesamtzweiter auf dem Podium in Paris stand.
Vom Nervenbündel zum Anführer
Damals hatte man dem unbeabsichtigt in den Mittelpunkt geratenen Dänen nur mitgegeben, er solle gucken, was geht, um ihn nicht unter Druck zu setzen. Denn Vingegaard galt auch als Nervenbündel. Seine Freundin habe ihm dabei geholfen, die Nervosität beizulegen, indem sie ihn gezwungen habe, sich Situationen zu stellen, die er sonst lieber gemieden habe. "Ich bin selbstbewusster geworden, erwachsen", sagte Vingegaard. Als der Däne 2019 ins Team gestoßen sei, sei er ein komplett anderer Fahrer gewesen, bestätigte auch van Aert: "Jetzt ist er viel selbstbewusster, ein echter Leader."
Offiziell aber war Vingegaard auch diesmal nur als Co-Kapitän neben Roglic in die Tour gestartet. Begleitet von großen Erwartungen seiner Landsleute, die ihn bei der Teampräsentation zum Grand Départ in Kopenhagen zu Tausenden mit Sprechchören feierten und damit zu Tränen rührten.
Erst nach Roglic-Aus zur Kapitänsrolle
Als Roglic auf der 5. Etappe über das Kopfsteinpflaster wieder stürzte, sich die Schulter auskugelte und Zeit verlor, stieg Vingegaard zum alleinigen Kapitän der Jumbo-Visma-Mannschaft auf. Auch er war an diesem Tag in Panik, als ein Defekt ihn stoppte, aber dank der Tempoarbeit von van Aert hielt sich der Zeitverlust gegenüber Tadej Pogacar, dem Sieger der beiden Vorjahre, in Grenzen.
"Das war der einzige Tag an dem es für uns nicht perfekt lief", sagte Vingegaard. Danach aber begann Jumbo-Visma, die Tour de France komplett unter Kontrolle zu bringen. Das Team versetze Vinegaard auf der 11. Etappe zum Col du Granon mit einer aggressiven Taktik in die Position, Pogacar abzuschütteln. Und auch in den Pyrenäen war es die taktische Leistung seiner Mannschaft, die ihm den Etappensieg in Hautacam vorbereitete.
Der 25-Jährige aus dem eher flachen Dänemark war eindeutig der stärkste Fahrer im Hochgebirge in diesem Jahr. In seiner Jugend hat er die Urlaube mit der Familie häufig in den Alpen verbracht, wo er die berühmten Pässe erkletterte. Aber natürlich werden solche Erklärungen im Radsport alleine nicht ausreichen. Wie alle Toursieger in den vergangenen Jahren wird auch Vingegaard damit leben müssen, dass man seinen Leistungen auf dem Rad misstraut.
"Sie können uns vertrauen"
Die absolute Dominanz seines Teams, das neben dem Gelben Trikot auch das Grüne Trikot des punktbesten Sprinters und das gepunktete Bergtrikot gewinnen wird und vor der Abschlussetappe in Paris bereits sechs Etappensiege eingeheimst hat, nährt dieses Misstrauen zusätzlich. "Wir sind absolut sauber, niemand bei uns nimmt irgendetwas Illegales", versicherte Vingegaard und verwies auf die bis ins letzte Detail geplanten Vorbereitungen und harte Arbeit des Teams. "Darum können sie uns vertrauen."
Vertrauen ist im Radsport schon oft missbraucht worden. Aber so oder so ist der schmächtige Junge von einst nun auf dem Gipfel des Radsports angekommen. "Ich habe gewusst, dass ich die Tour de France eines Tages gewinnen kann", sagte Vingegaard, bevor er die triste Wellblechhalle in Gramat in Richtung Paris verließ. "Aber es jetzt zu erleben, ist unglaublich."