Tourreporter

Vingegaard verliert zwei Helfer Neue Balance im Kampf um das Gelbe Trikot

Stand: 17.07.2022 22:38 Uhr

Der Gesamtführende der Tour de France, Jonas Vingegaard, verliert vor den Pyrenäen zwei wichtige Helfer und stürzt selbst. Das könnte Auswirkungen auf den Kampf um Gelb haben.

Von Michael Ostermann, Carcassonne

Es gibt bei der Tour de France eine gerne verwendete Floskel, die vor allem dann zum Einsatz kommt, wenn der Träger des Gelben Trikots sich schon einen respektablen Vorsprung erarbeitet hat, den die Konkurrenten - wenn überhaupt - nur mit Mühe werden aufholen können. "Die Tour ist erst in Paris zu Ende", heißt es dann. Und eigentlich bedeutet dieser Satz, dass man sich nicht zu früh freuen darf, weil unterwegs noch viel passieren kann.

Die Fragilität des Unternehmens Toursieg

Man muss dem Team Jumbo-Visma zugute halten, dass man dort in den vergangenen Tagen nicht darauf zurückgegriffen hat. Dafür sind die 2,22 Minuten Vorsprung von Jonas Vingegaard im Gelben Trikot auf seinen größten Konkurrenten, den zweimaligen Toursieger Tadej Pogacar, wohl auch nicht deutlich genug.

Am Sonntag (17.07.2022), auf der 15. Etappe der Tour de France, belegte die niederländische Equipe unfreiwillig, dass diese Floskel eben auch einen wahren Kern besitzt. Die Mannschaft um den Gesamtführenden erlebte einen Tag, der die ganze Fragilität des Unternehmens Toursieg deutlich macht.

Sportschau Tourfunk, 17.07.2022 19:33 Uhr

Roglic auf dem absteigenden Ast

Begonnen hatte der Tag mit der Nachricht, dass Primoz Roglic nicht würde weiterfahren können. Der Slowene, als nomineller Kapitän zur Tour angereist, war seit seinem Sturz auf der 5. Etappe, inklusive ausgekugelter und wieder in Position gebrachter Schulter, angeschlagen. In den Alpen hatte Roglic dann entscheidenden Anteil daran, dass Pogacar derart in Bedrängnis geriet, dass Vingegaard das "Maillot Jaune" übernehmen konnte.

"Wenn wir gedacht hätten, dass er für Jonas in den Pyrenäen noch eine Rolle hätte spielen können, wäre er noch hier", sagte der sportliche Leiter des Teams, Grischa Niermann, unter der gleißenden Sonne in Carcassonne. Er sei wegen der Verletzungen eindeutig auf dem absteigenden Ast gewesen.

Es klang wie eine Verteidigungsrede. Und das war es in gewisser Weise auch. Denn angesichts der weiteren Ereignisse des Tages stellte sich die Frage, ob man Roglic nicht lieber noch bis zum Ruhetag hätte mitfahren lassen sollen.

Das Gelbe Trikot liegt auf der Straße

Denn nach Roglics Rückzug kam Vingegaard auf den 202,5 Kilometern zwischen Rodez und Carcassone noch ein weiterer wichtiger Helfer für die Berge abhanden: Der Niederländer Steven Kruijswijk stürzte 65 Kilometer vor dem Ziel und musste mit dem Krankenwagen ins Hospital gebracht werden. "Trauma der rechten Schulter", hieß es später im medizinischen Bulletin.

Und es wurde nicht besser: Kurze Zeit später lag auch Jonas Vingegaard selbst gemeinsam mit seinem Teamkollegen Tiesij Benoot auf der Straße. Rappelte sich aber schnell wieder auf, um zurück ins Feld zu fahren. Es gehe ihm gut, teilte der Mann im Gelben Trikot später mit. Er habe lediglich ein paar Schürfwunden auf der linken Körperhälfte davongetragen.

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Sportschau, 17.07.2022 14:03 Uhr

Auf Kuss und van Aert kommt es jetzt an

Schwerwiegender als die körperlichen Folgen des Sturzes dürften ohnehin die mentalen und strategischen Auswirkungen dieses schwierigen Tages sein. Vingegaard konnte sich im bisherigen Tourverlauf darauf verlassen, das stärkste Team an seiner Seite zu haben. Nun hat sich die Balance des Rennens um das Gelbe Trikot verändert.

Wie Pogacar, der zwei seiner Helfer wegen positiver Corona-Tests verlor, ist auch Vingegaard jetzt nur noch von fünf Helfern umgeben. In den Bergen muss er nun vor allem darauf hoffen, dass der US-Amerikaner Sepp Kuss ihm möglichst lange zur Seite stehen kann. So wie im Anstieg nach Alpe d'Huez am vergangenen Donnerstag, als Kuss lange das Tempo der Favoritengruppe bestimmte.

Doch nun gibt es eben kaum noch jemand, der die Arbeit vorher machen kann. Lediglich Wout van Aert, der Alleskönner aus Belgien, der in Carcassone auf Platz zwei sprintete. Auf ihm lastet in den kommenden Tagen nun noch mehr Verantwortung. Der anstehende Ruhetag dürfte Vingegaard und seinem Team jetzt also gerade recht kommen, um sich vor den dann auf dem Programm stehenden Bergetappen in den Pyrenäen eine Strategie zurechtzulegen.

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Sportschau, 17.07.2022 14:03 Uhr

Vorteil Gelbes Trikot

"Wir werden am Ruhetag unsere Wunden lecken", sagte Vingegaards sportlicher Leiter Grischa Niermann. "Es wird sicherlich nicht einfacher mit sechs Mann, darauf müssen wir uns einstellen und werden einen Plan machen." Seine Mannschaft sei immer noch im Vorteil, schließlich habe man das Gelbe Trikot.

Tatsächlich ist es Pogacar, der nach wie vor Boden gutmachen muss. Der Slowene bezeichnete seinen Tag "als heiß und ein bisschen langweilig". Er sei froh, dass man selbst nicht in die Stürze verwickelt gewesen sei. Dass das Pech der Konkurrenz seine Aussichten ein wenig verbesssert hat, wird auch er wissen. Auch wenn er natürlich darauf hinwies, dass man sich nicht wünsche, dass die Rivalen so aus dem Rennen ausscheiden. "Aber wir müssen weitermachen", sagte Pogacar.

Das gilt natürlich auch für Jonas Vingegaard, der in Carcassonne klang, als sei er schon in der Defensive. "Wir werden kämpfen bis Paris", versprach der Däne. Denn erst dort ist die Tour tatsächlich vorbei und unterwegs kann noch viel passieren.