Vingegaard übernimmt Gelb Die Offensive der "Killerwespen" stürzt Pogacar
Das Team Jumbo-Visma geht auf der 11. Etappe volles Risiko und wird mit dem Gelben Trikot für Jonas Vingegaard belohnt. Tourfavorit Tadej Pogacar will zurückschlagen.
Es dauerte nicht lange, da hatte Tadej Pogacar sein Lausbubenlächeln wiedergefunden. Ein paar Minuten nur nachdem der Slowene auf der 11. Etappe auf dem Col du Granon geschlagen ins Ziel gerollt war, war es wieder da. Nach einem Einbruch, wie er ihn bei der Tour de France bislang noch nicht erlebt hatte, strahlte der Slowene jenen Mann an, der ihm soeben diese Niederlage beigebracht und das Gelbe Trikot entrissen hatte.
Eine monumentale Etappe
Einen Klaps für Jonas Vingegaard hatte Pogacar auch noch übrig, bevor er das Maillot Jaune an den Dänen abgeben musste. Vingegaard war da schon am Telefon, um die ersten Glückwünsche von seiner Freundin entgegenzunehmen, die, wie viele andere Beobachter auch, vermutlich kaum hatte fassen können, was sich da auf dieser ersten wirklich schweren Bergprüfung der diesjährigen Tour abgespielt hatte.
Es war eine monumentale Etappe, in der Vingegaards Team Jumbo-Visma das Rennen schon früh einfach explodieren ließ und alles auf den Kopf stellte. "Wir wollten von Anfang an attackieren, um Tadej herauszufordern", erklärte Vingegaard, als er Besitz vom Gelben Trikot genommen hatte. "Ich war im vergangenen Jahr schon Zweiter, würde ich nichts riskieren, könnte ich wieder Zweiter werden", argumentierte Vingegaard. "Aber ich versuche lieber etwas, um den Sieg zu holen."
Ein riskanter Plan: Attacke folgt auf Attacke
Tatsächlich hat die Tour de France, bei der viele Mannschaften lieber konservativ agieren, um nicht zu verlieren, schon lange nicht mehr eine derartige Offensive erlebt wie die der "Killerwespen", wie die niederländische Equipe wegen ihrer bis vor kurzem noch gelb-schwarzen Trikot genannt wird. Das neue Outfit hat seit kurzem eine undefinierbare Farbe, aber die Mentalität ist geblieben.

Tadej Pogacar (l.) ist umringt vom Team Jumbo-Visma
Es war ein riskanter Plan, der genauso gut hätte schief gehen können, denn Pogacar schien lange unbeeindruckt von all dem Zauber, den seine Konkurrenten veranstalteten. Schon auf der Kuppe des Col du Télégraph 67,8 Kilometer vor dem Ziel war Jumbo-Visma in die Attacke gegangen und hatte Pogacar schnell von seinen Helfern isoliert.
Auf dem Weg hinauf von Valloire in Richtung Galibier, dem 2.642 Meter hohen Dach der Tour, hatten sie dieses Ziel erreicht und nahmen den zweimaligen Toursieger in die Zange. Attacke folgte auf Attacke: Roglic griff an, Pogacar musste hinterher, Vingegaard attackierte, Pogacar musste hinter.
Roglic opfert seine Chancen
Roglic, vor zwei Wochen offiziell als Kapitän des Jumbo-Visma-Teams nach Kopenhagen zum Tourstart angereist und dann durch einen Sturz geschwächt, opferte für den Plan seine Chancen auf eine gute Platzierung im Gesamtklassement. "Das zeigt was für ein großer Fahrer Primoz ist. Er hat alles gegeben für den Plan und ist sehr, sehr tief gegangen", lobte Vingegaard.
Und doch schien Pogacar Herr der Lage zu bleiben, obwohl seine von Corona geschwächte Mannschaft ihn kaum unterstützen konnte. Am Fuße des Col du Granon flirtete er sogar noch mit den TV-Kameras. Es sah so aus, als mache ihm das alles großen Spaß. Und nach den ersten Kilometern des Schlussanstiegs war Vingegaard plötzlich ohne Helfer unterwegs, während der Pole Rafael Majka wie aus dem Nichts auftauchte, um Pogacar zu unterstützen.
Pogacar bleibt einfach sitzen
Aber als der Kolumbianer Nairo Quintana sich aus der Favoritengruppe absetzte, blieb Pogacar entgegen seiner Gewohnheit einfach sitzen. Auch eine Attacke des Franzosen Romain Bardet blieb ohne Konter des Slowenen.
Und als Vingegaard dann zur entscheidenden Attacke ansetzte, hatte er endgültig nichts mehr zuzusetzen und musste schließlich auch noch Geraint Thomas, David Gaudu und Adam Yates ziehen lassen. All das spielerisch Leichte, das seinen Fahrstil sonst prägt, war verschwunden. Pogacar quälte sich.
"Ich weiß nicht, was los war. Am Galibier habe ich mich noch gut gefühlt, dann gab es eine Attacke nach der anderen. Zum Schluss hatte ich keine guten Beine mehr, es war einfach kein guter Tag", rätselte Pogacar später, nachdem er mit offenem Trikot und schmerzverzerrtem Gesicht mit 2'51 Minuten Rückstand im Ziel angekommen war.
Vingegaard gegen Pogacar - ein neues Duell
Vingegaard liegt jetzt in Gesamtwertung 2'22 Minuten vor Pogacar, der auf Rang drei des Klassements zurückfiel. Dazwischen sitzt Bardet (+2'16). Die Konstellation verspricht für die anstehenden Tage und vielleicht sogar für die kommenden Jahre ein spannendes Duell. Mit Vingegaard (25) ist dem Überflieger Pogacar (23) ein ernsthafter Konkurrent erwachsen, der nun erst Mal im Vorteil ist.
"Tadej bleibt der wichtigste Gegner", sagte Vingegaard auf dem Col du Granon. "Ich erwarte, dass er jeden Tag attackieren wird." Die erste Gelegenheit dazu gibt es schon am Donnerstag auf der 12. Etappe nach L'Alpe d'Huez. Und Pogacar hat bereits angekündigt, dass er nicht aufgeben will. "Heute habe ich drei Minuten verloren, morgen gewinne ich vielleicht drei Minuten", erklärte er. Gut möglich, dass die Tour in den kommenden Tagen noch einmal auf den Kopf gestellt wird.