Radsport Paris-Roubaix: Epischer Debütantenball im Matsch

Stand: 03.10.2021 22:05 Uhr

Der Italiener Sonny Colbrelli gewinnt eine dramatische Ausgabe des Radklassikers Paris-Roubaix. Bei Schlamm und Nässe lässt auch ein deutscher Debütant aufhorchen.

Der Sieger lag zusammengekrümmt auf dem Rasen des Velodromes von Roubaix und schluchzte, schrie, weinte, freute sich - alles zugleich. Schmerz und Freude in einer Person. "Das war der schönste Sieg den ich bislang im Radsport gefeiert habe", sagte Sonny Colbrelli später.

Da war der 31 Jahre alte Italiener längst vom Dreck befreit, den er wie alle anderen Radprofis, die das Ziel des Klassikers Paris-Roubaix erreichten, millimeterdick auf seiner Haut mitgeschleppt hatte. Aus den Schlammkrusten in den Gesichtern blickten einem blutunterlaufene Augen entgegen - stolz und erledigt. 

Degenkolb ist sehr stolz

"Wirkliche Helden der Landstraße", nannte Ralph Denk, der Teamchef des deutschen Teams Bora-hansgrohe alle jene, die diese Tourtur über 257,7 Kilometer durchgestanden, sich über die von Schlamm und Pfützen überzogenen 30 Kopfsteinpflaster-Passagen gequält hatten.

Und auch, wenn man mit dem Begriff des Heldentums im Zusammenhang mit Sport, insbesondere mit Radsport, eher vorsichtig sein sollte, schuf dieser Tag tatsächlich eines dieser epischen Ereignisse, von denen die Geschichte dieses Sports trotz aller Doping-Skandale immer wieder zehrt. 

"Das stellt alles andere in den Schatten, was ich jemals im Radsport erlebt habe, das ist echt krass", sagte John Degenkolb, der Paris-Roubaix 2015 immerhin selbst schonmal als Sieger beendet hat. Diesmal wurde er 51., aber das sei auch egal. "Ich bin unglaublich stolz, dass ich es bis hierher geschafft habe", erklärte Degenkolb, der sich bei einem Sturz böse am Knie verletzt, aber dennoch durchgehalten hatte.

Sonny Colbrelli siegt im Sprint

Colbrelli wird nun also als 118. Gewinner in die Siegerliste dieses Rennens eingetragen werden, das wegen der Pandemie im vergangenen Jahr gar nicht hatte stattfinden können und 2021 vom Frühjahr in den Herbst verschoben worden war. Aber der Blick in diese Chronik alleine wird in ein paar Jahren keinen Eindruck mehr davon vermitteln können, welch besonderes Rennen die diesjährige Auflage war. 

Colbrelli gewann den Sprint einer dreiköpfigen Spitzengruppe, die nach sechs Stunden auf das Oval der Radrennbahn in Roubaix eingebogen war, um die Podiumsplätze auszufahren. Der Italiener ist ein Sprinter, deswegen war es keine Überraschung, dass er am Ende den Belgier Florian Vermeersch und den Mitfavoriten Mathieu van der Poel aus den Niederlanden auf die Plätze verwies. "Aber", gab Colbrelli später zu bedenken, "nach 250 Kilometern kann auch ein Kletterer einen Sprint gewinnen."

Dazu kam es nicht, weil Bergfahrer in der Regel einen möglichst großen Bogen um den Kopfsteinklassiker machen. Auch Colbrelli hat sich jahrelang ferngehalten von den Pavés im französischen Norden, weil er lieber das normalerweise eine Woche nach Paris-Roubaix stattfindende Amstel Gold Race in den Fokus genommen habe, wie er erklärte.

Sportschau Tourfunk, 03.10.2021 20:33 Uhr

Colbrelli mit Hilfe des Mentalcoaches

Dass er nun gleich bei seinem Debüt den Pflasterstein entgegennehmen konnte, mit dem die Sieger anstelle eines Pokals geehrt werden, passt zur bisherigen Saison des Italieners. Acht Saisonsiege stehen für Colbrelli in diesem Jahr zu Buche. Vor drei Wochen gewann er den Europameister-Titel, italienischer Meister wurde er in diesem Sommer auch schon. 

23 Siege waren es zuvor seit seinem ersten Profisieg 2014 bis zum Ende der Saison 2020 gewesen. "Das ist mein Jahr", bestätigte Colbrelli in Roubaix. Eine Erklärung für seinen späten Durchbruch lieferte er auch gleich mit: "Meine Mentalität hat sich geändert". 

Er arbeite seit diesem Jahr mit einem Mentalcoach zusammen, berichtete der Profi vom Team Bahrain Victorious, das in diesem Jahr zu den erfolgreichsten Mannschaften der Saison zählte. Während der Tour de France aber auch für Schlagzeilen sorgte, als die französische Polizei im Auftrag der Anti-Doping-Behörden eine Durchsuchung im Teamhotel durchführte. Colbrelli wies den Verdacht auf unerlaubte Machenschaften innerhalb der Equipe damals empört zurück.

Rutsch bei seinem Debüt Elfter

Dass Colbrelli nun gleich bei seinem Debüt in der "Hölle des Nordens", wo man eigentlich von der Erfahrung über Jahre zehrt, ganz vorne landete, war aber an diesem Tag auch keine Besonderheit. Auch Vermeersch und van der Poel hatten den Klassiker zum ersten Mal in Angriff genommen. 

Und auch aus deutscher Sicht waren es ein Debütant, der für das beste Ergebnis sorgte. Jonas Rutsch kam mit der Verfolgergruppe um den großen Favoriten Wout Van Aert mit 1:16 Minuten Rückstand ins Ziel.

Obwohl auch er im Finale noch einmal einen Defekt erleiden musste, weil auch das Material aufs äußerste strapaziert wurde bei den unwirtlichen Bedingungen. "Ich bin tot", sagte Rutsch nach dem Rennen im Velodrome ziemlich lebendig. "Man hat mir immer gesagt, Roubaix ist mein Rennen, heute habe ich das ein Stück weit bewiesen.

Walscheid nach Defekt mit zweitem Rad

Und auch Max Walscheid, der das Rennen als Zwölfter mit 3:17 Minuten Rückstand beendete, war mit seinem Auftritt mehr als zufrieden, trotz zweier Stürze. "Ich habe noch nie ein Rennen gehabt, dass mich derart übermannt hat, so viel Leiden ist eigentlich nicht möglich, aber es ging dann doch. Da weiß ich auf jeden Fall, dass ich am Ende dabei sein kann."

Beide werden wiederkommen nach Roubaix und ihre Chance auf den großen Ruhm suchen, so wie auch Nils Politt, der Zweitplatzierte von 2019, der das Rennen diesmal nach mehreren Defekten entnervt aufgab. Der Kölner kann nur darauf hoffen, dass er im kommenden April, wenn die 119. Ausgabe ansteht, mehr Glück hat. Aber, ob es dann wieder so episch zugeht, ist fraglich.