Radsport | Giro d'Italia Giro d'Italia - Sekundenkampf mit neuen Ideen

Stand: 26.05.2022 09:00 Uhr

Drei Fahrer prägen den diesjährigen Giro d’Italia: Richard Carapaz, Jai Hindley und Mikel Landa. Sie alle fahren auf gleich hohem Niveau - und werden den Gesamtsieg unter sich ausmachen.

Von Tom Mustroph (Lavarone)

Drei Fahrer prägen diesen Giro d’Italia. Richard Carapaz, der Mann in Rosa, Jai Hindley, sein ärgster Verfolger, und Mikel Landa, seit Mittwoch (25.05.2022) auf Platz drei, bewegen sich bei diesem Giro auf dem gleichen Niveau. Einträchtig sah man sie bei dieser Italien-Rundfahrt die Anstiege erklimmen und die Abfahrten hinunterjagen. "Wir drei sind wirklich auf einem Level, da gibt es keinen großen Unterschied", sagt Richard Carapaz.

Sekunden werden den Giro entscheiden

Das gleiche Leistungsniveau bedeutet aber nicht, dass die drei ruhig nebeneinander herfahren. Immer wieder attackieren sie sich. Carapaz, immerhin Olympiasieger von Tokio und 2019 Sieger beim Giro, gelang es zweimal, sich abzusetzen.

Beide Male holte ihn aber Jai Hindley zurück. Und in Sachen Bergsprint ist der neue Star des Rennstalls Bora-hansgrohe bislang besser als der Routinier von Team Ineos. 3:1 steht es in dieser Disziplin für ihn, 3:0 gar, wenn der Bergsprint noch mit Bonussekunden honoriert war, weil es um die ersten drei Plätze ging. 21 Bonussekunden konnte Hindley dabei herausfahren. Carapaz liegt bei 14 Bonussekunden. Drei davon holte er beim Zwischensprint heraus.

Auf derartigen Nebenbühnen investieren Klassementfahrer gewöhnlich keine Kräfte. Carapaz erkannte aber früh, dass es bei diesem Giro um Sekunden gehen könnte. Genau diese drei Sekunden liegt er Mitte der dritten und entscheidenden Woche vorn. "Ich denke, dass die Bonussekunden wichtig sind. Sie können diesen Giro entscheiden", meinte der Ecuadorianer. Auch Hindley glaubt, dass es eng zugehen wird: "Vorher sagten die Leute, der Giro wird nach Minuten entschieden. Bei diesem Giro geht es um Sekunden."

Hindley: "Mir gehen die Etappen aus"

Das zehrt natürlich an den Nerven. Jeder kleine Fehler kann den Sieg kosten. Etwas beunruhigt meinte Hindley auch gegenüber der Sportschau: "Mir gehen langsam die Etappen aus, um Zeit gutzumachen." Diese Aussage unterstreicht aber auch den Anspruch von Hindley. Er hat den Giro-Sieg fest ins Auge gefasst. Das ist ein riesiger Entwicklungsschritt für ihn - und erst recht für seinen Arbeitgeber Bora-hansgrohe.

Denn erstmals fährt der Raublinger Rennstall nicht nur um das Podium bei einer großen Rundfahrt mit wie 2019 bei der Tour de France mit Emanuel Buchmann. Der Ravensburger wurde damals Vierter. Mit Hindley geht es um den Sieg. Das sieht auch Teamkollege Lennard Kämna so. Er ist überzeugt davon, dass schon vor dem entscheidenden Zeitfahren in Verona die drei Sekunden Rückstand auf Carapaz in einen Vorsprung umgewandelt werden können. "Oh, das kriegt man schon hin", sagte er mit fröhlichem Lachen der Sportschau.

Kämna von Hindleys Qualitäten überzeugt

Von den Qualitäten des neuen Leaders ist er überzeugt: "Jai zeigt hier, dass sein zweiter Platz 2020 beim Giro keine Eintagesfliege ist. Und wir als Rundfahrtmannschaft entwickeln uns auch immer weiter."

Einen Riesenschritt in dieser Entwicklung machte Bora-hansgrohe am Samstag. Bei der Hügeletappe rings um Turin fuhren fünf Bora-Fahrer das komplette Peloton auseinander. "Ja, da haben sie uns massiv überrascht", gab Carapaz unumwunden zu. An diesem Tag etablierte sich Hindley dank der famosen Teamleistung und dank seiner eigenen Bergsprintfähigkeiten als erster Herausforderer des Mannes in Rosa.

Vorentscheidung an der Marmolada?

Hindley selbst hält die vorletzte Etappe, den Ritt über drei Pässe mit dem Ziel auf dem 2.057 Meter hohen Marmolada, für entscheidend für diesen Giro. Sein sportlicher Leiter Jens Zemke warnt: "Man muss es schon vorher probieren und darf sich nicht auf den letzten Berg oder gar das Zeitfahren verlassen."

Die 18. Etappe am Donnerstag gibt vom Profil her wenig Angriffspunkte. Sie weist zwar in der Prosecco-Region von Valdobbiadene einige Hügel auf, die letzten 40 Kilometer bis ins Ziel von Treviso sind aber flach. Interessanter wird es am Freitag. Da geht es zunächst auf den knapp zwölf Kilometer langen und bis zu 15 Prozent steilen Kolovrat an der italienisch-slowenischen Grenze. Danach muss der giftige finale Anstieg zum Santuario di Castelmonte bezwungen werden. Das ist gutes Gelände für schlaue Pläne. Da steigt auch die Erwartungshaltung, gerade beim neuen Rundfahrtteam Bora. "So eine Aktion wie wir sie in Turin gemacht haben, kann man sicher nicht jeden Tag wiederholen. Aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, werden wir die nutzen", meinte Zemke.

Erfindergeist bei Bahrain Victorious

Gespannt darf man zudem auf den dritten Player sein. Team Bahrain Victorious war in den vergangenen Tagen die aktivste Mannschaft. Sie holte mit Ausreißer Santiago Buitrago die 17. Etappe und bugsierte zugleich mit einer Kollektivleistung, die der Bora-Aktion aus Turin kaum nachstand, ihren Kapitän Landa auf den dritten Gesamtrang.

In Sachen Klassement umstürzen hat der Rennstall zudem größere Erfahrung als Bora. Erinnert sei nur an die jüngste Vuelta a Espana, als dort am vorletzten Tag nicht nur Jack Haig auf Gesamtrang drei gefahren wurde, sondern angesichts der Wucht der Attacke Rivale Miguel Angel Lopez frustriert ins Teamauto stieg. Das war eine begeisternde Mischung aus Taktik, Beinkraft und Leidenschaft. "Bora hat uns am Samstag in Turin überrascht. Jetzt wollen wir uns aber etwas Ähnliches einfallen lassen", meinte der sportliche Leiter von Bahrain, Alberto Volpi. Er will mehr als Rang drei für seinen Kapitän Landa.

Beim Wettstreit der Innovatoren sollte man auch Ineos nicht außer Acht lassen. Das Team fuhr diesen Giro bisher zwar sehr konservativ. Während der Klassikersaison im Frühjahr fiel das einstige Tempomat-Team aber auch durch sehr frühe und unerwartete Kollektivattacken auf. Die letzten Giro-Tage dürften auch dank der knappen Abstände sehr spannend werden.