Deutschland-Tour Leiter der Gedenkstätte Buchenwald: "Radsport am Massengrab ist pietätlos"

Stand: 25.08.2021 15:18 Uhr

Die "Blutstraße" am Ettersberg führte im 2. Weltkrieg zum KZ Buchenwald. Hier sollte zunächst eine Bergankunft der Deutschland-Tour stattfinden. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald kritisiert die Tour-Organisatoren.

Im Konzentrationslager Buchenwald starben während des 2. Weltkrieges ca. 56.000 Menschen, mehr als 265.000 Menschen waren dort inhaftiert. Buchenwald war das größte KZ im Deutschen Reich. Der Historiker Jens-Christian Wagner leitet seit Oktober 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Dass in Buchenwald eine Etappe entlangführen und sogar eine Bergwertung stattfinden sollte, erfuhr er laut eigener Auskunft erst Mitte Juli. Anfang August wurde die Streckenführung nach öffentlicher Kritik geändert. Nun führt die Etappe am Freitag (27.08.2021) in der Nähe der Gedenkstätte durch Weimar.

Sportschau: Herr Wagner, wie blicken Sie auf die vergangenen Wochen?

Jens-Christian Wagner: Mit einem gewissen Groll, weil eine große Chance vertan wurde. Wenn die Verantwortlichen der Deutschland-Tour frühzeitig mit uns Kontakt aufgenommen hätten, hätten wir gemeinsam dazu beitragen können, dass sich Radsport-Begeisterte intensiv mit der Geschichte des Radsports im Nationalsozialismus und mit dem KZ Buchenwald hätten auseinandersetzen können. Das haben wir jetzt sehr, sehr kurzfristig gemacht. Wir wurden ja erst Mitte Juli überhaupt von den Verantwortlichen darüber informiert, dass die Tour durch die Gedenkstätte gehen sollte.

Eine vergebene Chance: "Hätte uns und dem Radsport genutzt"

Sportschau: Die Strecke wurde nach dem ersten öffentlichen Aufschrei schnell abgeändert. Eine Etappe dort hätte aber auch viel Aufmerksamkeit für ihre Gedenkstätte gebracht.

Wagner: Wir haben einen Blog und Posts in den sozialen Medien vorbereitet. Das hätte man natürlich ganz anders aufziehen können. Mit einer eigenen Webseite, zusammen mit der Deutschland-Tour. Oder einer Wanderausstellung. Einer Publikation zum Thema. Das hätte der Gesellschaft insgesamt genutzt, aber auch dem Radsport. Diese Chance wurde vertan. Das ist außerordentlich bedauerlich.

Sportschau: Haben Sie inzwischen eine Erklärung dafür, warum die Verantwortlichen so spät auf Sie zugekommen sind?

Wagner: Nein, nicht wirklich. Ich habe mit diversen Verantwortlichen lange Telefonate geführt, und immer wurde jeweils die Schuld auf den anderen geschoben. Ich glaube, man hat es einfach verpennt. Man war sich nicht darüber im Klaren, dass es geschichtlich ein extrem sensibles Unterfangen ist, ein renommiertes Radrennen durch eine Gedenkstätte führen zu lassen. Ich glaube zwar, es wäre prinzipiell möglich gewesen. Aber nur mit guter Vorbereitung und viel Fingerspitzengefühl.

"Sport kann zur Reflexion beitragen, man muss aber sensibel sein"

Sportschau: Sie haben in einem anderen Interview gesagt, Buchenwald sei keine sportliche Herausforderung, sondern ein Ort der historischen Reflexion. Könnte Sport, in diesem Fall Radsport, denn nicht zu historischer Reflexion beitragen?

Wagner: Schon. Sie müssen aber bestimmte Dinge berücksichtigen. An der Straße durch die Gedenkstätte liegen etwa Massengräber. De facto ist das ein großer Friedhof. Da muss man sehr sensibel reagieren. Natürlich hätten wir mit guter Vorbereitung auch Zielgruppen erreichen können, die wir sonst nicht erreichen. Deswegen sage ich ja, es ist eine großartige Chance, die vertan wurde. Aber erst war ja eine Bergwertung geplant. Das ist in meinen Augen ein deutlicher Hinweis darauf, dass nicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ort im Mittelpunkt stand, sondern der Ettersberg tatsächlich als sportliche Herausforderung gesehen wurde.

Sportschau: Die ersten Pläne der Organisatoren sahen vor, dass die Etappe über die "Blutstraße" führen sollte …

Wagner: … eine Betonstraße, die von den KZ-Häftlingen gebaut wurde, explizit als Zufahrtsstraße zum KZ Buchenwald.

Sportschau: Der Zentralrat der Juden kritisierte, dass eine Radtour entlang der "Blutstraße" pietätlos sei.

Wagner: Eine reine Sportveranstaltung auf einem KZ-Friedhof – und das ist es de facto – ist pietätlos und geht nicht. Wenn das Feld durch die Gedenkstätte fährt, muss das etwas anderes sein als eine sportliche Herausforderung. Stellen Sie sich mal die jubelnden Leute am Streckenrand bei einer Bergankunft vor. Das geht nicht. Das haben auch die Organisatoren der Tour sofort eingesehen.

Sportschau: Haben oder hatten Sie dazu auch Kontakt mit Radsportlern?

Wagner: Nein, leider nicht.

Kaum Forschung zur Rolle des Radsports im Nationalsozialismus

Sportschau: Sie sind Professor für Geschichte: Welche Rolle hat der Radsport im Nationalsozialismus eingenommen?

Wagner: Die Geschichte des Radsports im Nationalsozialismus spiegelt die Geschichte der nationalsozialistischen Gesellschaft. Wir posten aktuell die Geschichten verschiedener Radsportler, Profis und Amateure. Einige von ihnen wurden verfolgt, teils sogar in Buchenwald ermordet. Der Bund Deutscher Radfahrer hat sich gleichschalten lassen. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass ein großer Teil der deutschen Radfahrer genauso von den Nationalsozialisten begeistert war wie die meisten anderen Deutschen auch.

Sportschau: Wenn Sie sagen, dass man davon ausgehen könne – heißt das, dass das Thema historisch noch nicht endgültig untersucht wurde?

Wagner: Nein, wurde es nicht. Es gibt keine seriöse Gesamtdarstellung. Wir haben jetzt mal etwas recherchiert, aber nur wenige Wochen. Wir haben sozusagen ein paar "Tiefenbohrungen" vorgenommen, um Biografien zu zeigen. Zum Beispiel von Alfred Salomon, einem Bochumer Radsportler. Er durfte seit 1933 als Jude nicht mehr öffentlich antreten, wurde aber von seinen Vereinskameraden gedeckt, sodass er unter falschem Namen starten konnte. Er wurde von Auschwitz nach Buchenwald deportiert und hat knapp überlebt.

"Vielleicht können wir in Zukunft etwas auf die Beine stellen"

Sportschau: Welche Lehren ziehen Sie aus den vergangenen Wochen und wie geht es nun weiter?

Wagner: Wir posten noch bis Freitag täglich etwas auf unserem Blog und in den sozialen Medien, was mit Radsport und dem Nationalsozialismus in Verbindung steht. Den Organisatoren der Deutschland-Tour will ich auf keinen Fall Leugnung oder Verharmlosung von NS-Verbrechen anlasten. Das war einfach eine gewisse Form von Ignoranz. Eine vergebene Chance. Vielleicht können wir ja in Zukunft etwas Besseres zusammen auf die Beine stellen.