Der Japan-Reiseblog von Julia Linn Auf den Spuren Olympias – in Japans Katastrophengebiet

Stand: 10.07.2021 18:08 Uhr

Der erste Tag in Freiheit steckt voller Erlebnisse: Ich treffe eine der besten Surferinnen Japans - mit Olympia-Chancen. Und: Ich bin an einem Ort, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich hier mal lande.

Von Julia Linn (Tokio)

Um 06.45 Uhr startet mein Zug vom Bahnhof Shinagawa in Tokio. Meine erste Olympia-Reise führt gut 230 Kilometer entlang der Küste nach Yotsukura in die Präfektur Fukushima – ja, DAS Fukushima.

Zehn Jahre nach Erdbeben, Tsunami und Reaktorkatastrophe, werden hier olympische Wettkämpfe stattfinden - Baseball und Softball 60 Kilometer entfernt vom Kernkraftwerk. Die Region wollte sich der Welt präsentieren, den ausländischen Fans, die normalerweise angereist wären – aber dann: der Satz mit X.

In Fukushima ins Meer gehen? Ja!

Wir sind verabredet mit Kana Nakashio. Die 17-Jährige ist eine der besten Surferinnen Japans und Olympia-Fan - schließlich steht sie selbst im Perspektivkader für die nächsten Spiele in Paris. Heute misst sie sich mit anderen Surfern aus ganz Japan. Kana hat durch die Reaktorkatastrophe ihr Zuhause nördlich von Fukushima verloren, zum Surfen kehrt sie zurück. Mehrere Jahre hat sie sich nicht getraut, hier ins Wasser zu gehen - ich muss gestehen: Ich habe jetzt noch solche Gedanken.

Wir sind etwa 30 Kilometer entfernt vom Kernkraftwerk und ich stehe mit den Füßen im Pazifik. Ein Vertreter des Amts für Wiederaufbau der Präfektur Fukushima sagt, dass hier alles sicher sei, das Wasser werde permanent kontrolliert. Sein Amt hat hier am Strand einen Stand aufgebaut, das Interesse daran ist aber kaum bis nicht vorhanden.

Kana erzählt mir, dass sie es auch als Aufgabe der Surfer sieht, gerade hier ins Meer zu gehen. So könnten sie den Wiederaufbau Fukushimas unterstützen: "Wir müssen reingehen, damit die Leute sehen, dass es kein Problem ist."

Selfie auf der Tsunami-Schutzmauer – lieber nicht.

Als Kana ihren Wellenritt gemeistert hat - sie holt selbstverständlich den ersten Platz -, machen wir uns auf den Weg nach Hirono, 25 Kilometer entfernt vom Kernkraftwerk liegt unser Hotel. Dass ich hier mal einige Nächte verbringe, so nah am Unglücksort, hätte ich nie gedacht.

In Hirono erinnert noch vieles an die Katastrophe: Da ist die gigantische Tsunami-Schutzwand, man kann sogar auf ihr herumlaufen. Ganz kurz denke ich darüber nach, ein Selfie zu machen - aber das fühlt sich nur falsch an. 160 Wohnhäuser hat der Tsunami hier zerstört, etwa 50 Menschen sind gestorben. Im ganzen Ort weisen heute Schilder den Weg zum nächsten Tsunami-Evakuierungsbereich.

Nur wenige Minuten von unserem Hotel entfernt entdecke ich ein Strahlenmessgerät: Es zeigt 0,06 Mikrosievert pro Stunde an. Eigentlich beruhigend, denn als unbedenklich gilt alles bis zu einem Wert von 0,1. Trotzdem bleibt ein undefinierbares Gefühl. Von meinem Zimmer sehe ich das Meer - und die Tsunami-Schutzwand. Das undefinierbare Gefühl wird mich wohl auch in den Schlaf begleiten.

Zur Person: Julia Linn arbeitet für den WDR und im ARD-Studio Tokio und berichtet hier täglich von ihren Erfahrungen bei den Olympischen Spielen in Tokio.