Mannschaftssportarten bei Olympia Bernhard Peters: "Kein Team, das wirklich Begeisterung erzeugen konnte"

Stand: 05.08.2021 11:20 Uhr

sportschau.de: Die Olympia-Bilanz in den Mannschaftssportarten fällt ernüchternd aus: Erstmals seit 2000 in Sydney bleibt Deutschland in den Ballsportarten ohne Medaille. Haben Sie das befürchtet?

Bernhard Peters: Bei Spielsportarten braucht es eine differenzierte Betrachtung, aber in dem Ausmaß habe ich das nicht kommen sehen. Natürlich liegt es manchmal auch an Nuancen, aber damit kann man keine strategische Entwicklung erklären, deshalb sollte man sich ernsthaft an eine analytische Aufarbeitung machen, wie man die Situation verbessern kann.

Haben Sie Erklärungen?

Peters: Es gibt keine eindimensionale Erklärung. Generell tun wir uns mit der Entwicklung im Hochleistungsbereich schwer, weil die Stufen darunter, der Kinder-, Aufbau- und Leistungsbereich, nicht systematisch ausgebildet werden. Die natürliche Umsetzung des freien Spielens ist für die Kinder nicht mehr gegeben. Da passiert in anderen Ländern deutlich mehr. Vielleicht schnappt auch die große Volksbewegung Fußball hier zu viele Bewegungstalente für die anderen Spielsportarten weg. Der Fußball wiederum macht aus diesem Zulauf zu wenig, wie die letzten Jahre gezeigt haben. Hier fehlt es seit fast zehn Jahren an der richtigen Entwicklung.

Woran fehlt es noch?

Peters: Ich glaube auch, dass wir in vielen Ballsportarten verpasst haben, flächendeckend gute Kindertrainer auszubilden, die angepasst an kindgerechte Bedürfnisse mit guten pädagogischem Können Spielfähigkeit aufbauen können. Früher wurde sich das durch Ausprobieren auf der Straße, mit Klettern und freiem Spiel beiläufig geholt; heute wird oft die Freizeit komplett durchgeplant. Ich sehe große Defizite der Vereine und Verbände, eine Systematik und Kompetenz aufzubauen, um die Kinder abseits des Fußballs emotional auch durch Veränderung antiquierter Herangehenensweisen an ihre Sportarten zu binden. 

Ist es nicht ein Schlag ins Gesicht der olympischen Idee, wenn dann gerade der Deutsche Fußball-Bund nicht mal seine 22 Kaderplätze bestücken kann und mit einem Rumpfteam ohne Vorbereitung nach Tokio reist?

Peters: Es besteht eine sehr subtile Beziehung zwischen Olympia und dem Fußball, gerade in Deutschland. Wenn es keine Abstellungsperiode gibt, funktioniert das nicht, zumal die Vereine und Spieler nicht den mittelfristigen Nutzen erkennen wollen, den die internationale Erfahrung womöglich bringt. Das Dilemma ist daher nicht dem DFB anzulasten.

Was fällt Ihnen zum enttäuschenden Abschneiden der Handballer ein?

Peters: Handball ist ein abschreckendes Beispiel dafür, dass ein Bundestrainer, ob der aktuelle oder der vorherige, hier eine systematische Leistungsverbesserung gar nicht mehr bewerkstelligen kann, weil die Vielzahl der Spiele national und im europäischen Wettkampfsystem die Akteure total ausquetscht. Es wird im Drei-Tages-Rhythmus nur in Ergebnissen gedacht, eine gezielte Vorbereitung auf Olympia ist nie möglich. Es gibt keinerlei mittelfristige Trainings- und Ausbildungsphasen, der Aufbau einer absoluten Topform für den Einzelnen und das Team bleibt auf der Strecke.

Mannschaftssportarten schienen bei früheren Olympischen Spielen immer die so genannten deutschen Tugenden zu vereinen: Teamgeist, Taktik, Kampfgeist, Zweikampf- und Willensstärke. Haben Sie da auch Mängel in Tokio erkannt?

Peters: Da habe ich etwas vermisst. Nehmen wir mal die Basketballer: Sie sind zwar mit ihrem Abschneiden zufrieden, aber drei Niederlagen in vier Spielen haben gezeigt, dass sie gegenüber den großen Nationen keine Chance haben, eine Medaille zu gewinnen. Ich habe in allen Spielsportarten im technischen, im taktischen, kreativen und kognitiven Bereich Mängel gesehen, auch bei der Körperlichkeit und den Willenseigenschaften waren andere Länder stärker. Beispiel war das Halbfinale der Hockey-Männer gegen Australien: Der Gegner war eine Stufe explosiver und physischer, aber auch effizienter. Die Australier waren bissiger und gieriger, im Schusskreis die Tore zu machen. Die Niederlage war gegen einen besseren Gegner daher verdient. Auch die Frauen konnten im entscheidenden Moment nicht die nötige mentale Stärke zeigen.

Wer sich in einigen Sportarten den Nachwuchs anschaut, dem wird angst und bange. Dazu werden sich die Spätfolgen des Sportverbots in der Pandemie gesellen: Eine Vielzahl an Kindern und Jugendlichen sind dem Vereinssport verloren gegangen, Probleme wie Übergewicht und hoher Medienkonsum verschärfen sich auf teils dramatische Art.

Peters: Der Bewegungsmangel multipliziert sich in einem hochtechnologisierten Land, wenn Kinder stundenlang nur vor Computer, Smartphone oder Rechner sitzen. Die verlorene Zeit an Training ist nicht so leicht aufzuholen. Wann endlich versteht die Politik, die Gesundheitspolitik, dass dies ein gesellschaftliches Problem wird, wenn in unserem Krankenkassen-Versorgungssystemen schon bei Kindern Übergewicht und Diabetes brutal zunehmen. Da brauchen die Verbände und Vereine viel mehr finanzielle Unterstützung, um präventiv durch Sport Einhalt zu gebieten. 

Ohne Vorbilder, die beispielsweise bei Olympia erzeugt werden könnten, fehlen auch Anreize für die Jugend, sich in diesen Sportarten zu versuchen?

Peters: Ja, denn Kinder brauchen Idole. Das ist doch eigentlich auch der Sinn des Hochleistungssports: Idole werden erzeugt, damit die breite Masse ihnen nacheifert, aus der die nächsten Topleute im Handball, Basketball oder Hockey nachwachsen. Wenn aber die Spitze zu wenig leuchtende Vorbilder bringt, wird die Ausbildungsarbeit eher schwerer.

Hat eine auseinanderdriftende Gesellschaft, die sich in vielen politischen und gesellschaftlichen Fragen die vergangenen Jahre immer weiter entzweit hat und durch die Corona-Krise auch noch Distanz halten musste und muss, das verbindende Erlebnis einer Mannschaftssportart nicht dringend nötig?

Peters: Gerade ja. Leider hat bei der Fußball-Europameisterschaft die Nationalmannschaft diese Bindekraft überhaupt nicht ausgestrahlt, weil sie nicht als eng verschweißte Einheit, als absolutes Team aufgetreten ist. Das war schade, weil dieses Team als Multiplikator die größte Außenwirkung besitzt. Dieses Erscheinungsbild hat sich in Tokio fortgesetzt: Es gab keine Mannschaft, in die sich der deutsche Olympia-Zuschauer hineinsteigern konnte. Ich habe kein Team gesehen, das wirklich Begeisterung in einer Turnierdynamik erzeugen konnte.

Bei den Frauen haben nur die Hockeyspielerinnen um eine Medaille gespielt, die meisten Teams waren gar nicht erst qualifiziert. Was läuft da schief?

Peters: Ich kann nur sagen, dass in den angloamerikanischen Ländern die Frauensportarten eine höhere Bedeutung besitzen, beispielsweise der Frauenfußball in den USA. Frauensport ist besser in der Leistungssportkultur etabliert, gerade die Ballsportarten. Das Problem ist, dass der Hochleistungsbereich bei den Frauen wirtschaftlich noch schlechter abgesichert ist als bei den Männern, wenn wir an Fußball, Handball, Hockey oder Basketball denken. Eine Frau überlegt sich noch viel mehr, ob sie für den Sport wirklich die berufliche oder schulische Ausbildung vernachlässigen soll.

Braucht es einen Runden Tisch, um die Krise der Mannschaftssportarten gemeinsam aufzuarbeiten?

Peters: Wir müssen neue Denkmodelle in der Führung und Entwicklung einer sportinhaltlichen Konzeption mit aktivem Beteiligungsdenken bei Verbänden und Vereinen einbringen, meinetwegen auch in Verbindung mit E-Sport, obwohl ich wirklich kein Freund davon bin. Aber wir müssen ja erstmal wieder die Kinder für die Idee faszinieren, dass es ein überragendes Gefühl ist, in einer funktionierenden Mannschaft gemeinsam zu gewinnen oder auch bei einer Niederlage aufgefangen zu werden. Das ist im Zuge von vielen egoistischen Entwicklungen der Gesellschaft immer mehr hintenrüber gefallen. Kinder und Jugendliche wollen auch nicht mehr so harte Wettkampfstrukturen, sie wollen freier sein. Deshalb braucht es viele neue Ansätze mit kleinen Mannschaften, kleinen Flächen, damit das einzelne Kind wieder intuitive Spielfähigkeit entwickelt. Viele unserer Bewegungstalente kommen gar nicht in die Systeme rein. Dazu braucht es aber andere Strukturen: Verbände und Vereine, die im Tagesgeschäft versinken, werden das nicht mehr leisten. Wir brauchen Verbesserungen systematisch und inhaltlich in den Spielsportarten.

Das Interview führte Frank Hellmann