Formel 1 Schumacher-Doku: Familienwerte jenseits der Rennstrecke

Stand: 15.09.2021 06:00 Uhr

In der neuen Netflix-Doku "Schumacher" wird die Geschichte des berühmten Rennfahrers neu erzählt. Der Film schöpft Kraft aus einer gestoppten Biografie.

Von Martin Rosenbach

Die Familie Schumacher beim Tauchen. Gina und Mick, seine Frau Corinna und er. So fängt es an. Sphärische Musik, Behutsamkeit, Glück. Und: filmische Nähe. Danach suchen Dokumentarfilmer immer. Eine schwierige Aufgabe, wenn der Mann, um den es geht, nicht mehr für eine aktuelle Zusammenarbeit zur Verfügung steht, weil er körperlich und geistig nicht mehr dazu in der Lage ist. Es handelt sich um den siebenfachen Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher. Der beste Rennfahrer seiner Zeit.

Seine Erfolge, sein Schicksal und das seiner Familie lässt einen Doku-Produzenten nun auf die Idee kommen, einen Film zu machen: "Schumacher". Seit Mittwoch (15.09.2021) online auf Netflix zu sehen.

Aktuelle Interviews mit Familienmitgliedern und Wegbegleitern

Mache ein Starportrait ohne den Star – so war die Aufgabe an die Macher. Aktuell wurden die Familienmitglieder vor die Kamera geholt, dazu Wegbegleiter wie Flavio Briatore, Jean Todt oder Bernie Ecclestone – die Größen der Formel 1. Ansonsten ist die Dokumentation aus Archiv-Filmen bestückt, die neu zusammengesetzt eine intensive Wirkung erzielen aufgrund einer exakt inszenierten Dramaturgie.

Es ist eine gut gemachte Netflix-Produktion mit einem hervorragenden Timing. Nicht etwa vollgestopft mit Motorsound und Fangegröle. Wie langweilig wäre das auch gewesen für Zuschauer außerhalb der Motorsport-Gemeinde. Die Aufgabe, einem ehemaligen Supersportler und seinem Schatten gleichermaßen gerecht zu werden gelingt "Schumacher".

Getunter Kettcar als Start in die Weltkarriere

Als Michael vier Jahre alt war, montierte sein Vater ihm einen Moped-Motor auf einen Spielzeug-Kettcar. Der Beginn. Transportiert wird das, wie an vielen Stellen im Film, durch Fotos, die Schumacher immer in besonders ausdruckstarken Posen zeigen. Gokart-Fahren in Kerpen. Das Flüggewerden eines Rennsporttalents gehört natürlich auch zur Karriere des großen Schumacher.

Aber: Sport- und Familiengeschichte wird verwoben. So holt der Film auch Zuschauer ab, die sich für größere Zusammenhänge interessieren als der Sport sie bieten kann. Der zielstrebige, aber mittellose Jungrennfahrer startete für Luxemburg, weil das kein Geld kostete. Ein Detail, das vielleicht die Zielstrebigkeit eines Ausnahmesportlers charakterisiert.

Die Schumachers waren nicht reich und Rennfahren verschlingt Geld – all dies erfahren wir einfühlsam und interessant erzählt. Angenehm im Film ist der Verzicht auf den Glamour und auch auf chauvinistisches Auf-die-Pauke-hauen.

Die Sportduelle zwischen "Schumi" und Ayrton Senna, mit Damon Hill, Jacques Villeneuve und Mika Häkkinen – sie werden als Binnendramaturgien packend erzählt, ganz ohne die Hektik einer aktuellen Berichterstattung, vielmehr psychologisch. Die Chronologie der Erfolge wird aufgebrochen. Lange Einstellungen verändern die Sehgewohnheit auf einen ansonsten extra-schnellen Sport.

Archivfundstücke als Belege für Schumachers Wesen

Was Michael Schumacher groß machte, zeigt ein Archiv-Schnipsel, das seine Konzentrationsfähigkeit belegt. Hier starrt der Weltmeister in einen Monitor. Seine Reaktionen auf die, dem Zuschauer vorenthaltenen, Infos belegen, wie sehr sich ein Mensch fokussieren kann. Ein Beleg für Schumachers Kunst, entdeckt von den drei Machern des Films: Hanns-Bruno Kammertöns, Vanessa Nöcker und Michael Wech.

Jenseits von Ergebnislisten und Faninteressen ist "Schumacher" ein Film über Karriere, Konkurrenz und menschliche Kulminationspunkte. Familieneigene Videos vom tanzenden, singenden, Fallschirm- und  Trampolin-springenden Schumacher zeigen einen energetischen Vater. Wie hoch der Verlust in der Familie empfunden werden muss, ist greifbar. Denn Michael Schumacher hat zwar überlebt, aber er ist nicht mehr derselbe.

"Schumacher" erzählt mehr als eine Krankengeschichte

Der Gewinn der ersten Weltmeisterschaft für Ferrari wäre der Kipppunkt in einem herkömmlichen Biopic. Danach reihen sich nur noch die Titel. Alle Weggefährten sagen in der Regel dann noch, wie herausragend er war. Das wäre der normale Film. "Schumacher" geht weiter. Eine Gondel wirft Schatten im Schnee. Eine lange Einstellung. Es gibt bedeutsame Bild-Pausen in dem bunten Wirbel der Erfolge auf den Rennstrecken.

Meribel, Frankreich. 29. Dezember 2013. Der Unfall beim Skifahren. Vielleicht der stärkste Teil in "Schumacher". Medizinische Details, Zustandsberichte, gar Krankenhausbilder – alles fehlt, und doch ist alles da – im Kopf des Zuschauers. Das ist die Antwort auf die Frage "Wie geht es Michael Schumacher?" Seine Familie schöpft Kraft aus seiner Kraft, die ihn umgetrieben hat. Gibt es ein größeres Geschenk als diesen Fußabdruck im Leben anderer?

Der Film vermittelt sozialen Kitt für alle, ohne spektakulär zu sein – durch gutes Handwerk. Ganz nebenbei erleben wir die Faszination der Geschwindigkeit und des Erfolgs mit einem neuen Blick. Was bleibt, sind nicht die Erfolge. Es ist die Menschlichkeit.