Mentale Gesundheit im Leistungssport Sportstars am Limit: Das Ende des Schweigens

Stand: 08.10.2021 08:28 Uhr

Im Spitzensport zeigt sich eine neue Offenheit. Immer mehr Sportstars sprechen öffentlich über mentale Krisen und die Bedeutung der Sportpsychologie. Doch es gibt noch viel zu tun. Darauf will der World Mental Health Day 2021 am kommenden Sonntag hinweisen.

Der Mann auf dem Podium wirkt angespannt. Es ist kein gewöhnlicher Medien-Auftritt für Martin Hinteregger. Der österreichische Fußballnationalspieler von Eintracht Frankfurt spricht an diesem Sommertag im August nicht über den bevorstehenden Bundesligaauftakt, sondern über eine düstere Zeit in seiner Karriere. Nach seinem Wechsel 2019 von Augsburg nach Frankfurt sei er in ein mentales Loch gefallen und depressiv gewesen.

"Alles war mir zu viel"

"Es war alles dunkel. Alles war zu mir viel. Ich möchte den Leuten sagen: Friss nicht alles in dich hinein, wie ich es gemacht habe. Sucht Hilfe!" Er sei keiner, der gern mit Familie oder Freunden über Gefühle rede. Deshalb habe er seine Gedanken in einem Buch aufgeschrieben.

Der Sport Bild verrät er, dass er seine Depressionen verschwiegen habe. Nur seinem Arzt habe er sich anvertraut. "Ich habe ihm gesagt: 'Hey, es geht nicht mehr. Gib mir Tabletten oder irgendwas.' Monatelang habe er nur zwei oder drei Stunden pro Nacht geschlafen. "Trotzdem habe ich es geschafft, dass ich Leistung zeige."

"Ich kann nicht mehr, ich bin fertig"

Letztlich sucht Hinteregger Hilfe bei einer Psychologin: "Die Gespräche waren ganz wichtig, sonst wäre es wohl schlimm ausgegangen." Er habe es zwar ins Training geschafft, aber auch das habe sich schlimm angefühlt. Hinteregger gibt zu, dass er auch an den Suizid von Ex-Nationaltorwart Robert Enke gedacht habe. Der Profi von Hannover 96 hatte sich im November 2009 das Leben genommen. Er litt an Depressionen. "Auch bei mir war es sehr dunkel", gesteht Hinteregger. "Ich war total am Limit und habe auch schon mal gedacht: Mist, ich kann nicht mehr, ich bin fertig, es ist vorbei."

Martin Hinteregger ist kein Einzelfall. Immer mehr Spitzensportler:innen trauen sich, öffentlich über mentale Probleme zu sprechen. Bei den Olympischen Spielen in Tokio zog sich Simone Biles, die beste Turnerin der Welt, vom Wettkampf zurück, und sagte auf der Pressekonferenz: "Ich muss mich auf meine psychische Gesundheit konzentrieren. Wir müssen Körper und Geist schützen."

Anfang September erlebten Medienvertreter bei den US Open eine mental angeschlagene Naomi Osaka. Die Japanerin zog ihre Schirmmütze über ihre Augen, kämpfte mit den Tränen, wischte sich übers Gesicht und sagte: "Ich denke, ich werde für eine Weile mit dem Spielen pausieren." Bereits im Mai hatte der Tennisstar ihre Nicht-Teilnahme an einer Pressekonferenz bei den French Open in Paris damit begründet, dass sie den Medienrummel nicht mehr ertragen könne, weil sie unter depressiven Phasen und Sozialangst leide.

Ungewohnte Offenheit

Was sich in den vergangenen Jahren immer wieder mal durch öffentliche Bekenntnisse von Spitzensportler:innen wie Sebastian Deisler, Sven Hannawald, Timo Hildebrand, Ottmar Hitzfeld, Michael Sternkopf, Lindsey Vonn oder Michael Phelps angedeutet hatte, kommt nun mit einer enormen Wucht an die Oberfläche: Sportstars sind nicht mehr bereit, ihre psychischen Leiden zu verheimlichen. Eine ungewohnte Offenheit bricht sich Bahn.

Es scheint, als sei der gewaltige Druck, der sich über viele Jahre im Inneren des Systems Leistungssport aufgebaut hat, nicht mehr unter dem Deckel zu halten. Die hohen Erwartungshaltungen von Sponsoren, Eltern, Trainern, Fans und Mitspielern, der permanente Konkurrenzkampf, das Bedienen der Glitzerwelt in den sozialen Medien und das Funktionieren-Müssen unter dem Brennglas medialer Beobachtung - all dies wird vielen Sportlerinnen und Sportlern augenscheinlich zu viel. Sie haben keine Lust mehr, irgendein kleines Rädchen in der durchdesignten, leistungsoptimierten Sportwelt zu sein - um sofort ausgetauscht zu werden, wenn sie nicht mehr performen.

Die neue Achtsamkeit

Die Athlet:innen scheinen nachdenklicher und selbstbewusster geworden zu sein. Sie holen sich zunehmend Unterstützung und Hilfe bei der wachsenden Schar von Mentalcoachs und Sportpsychologen. "Die jungen Menschen haben sich verändert", sagte die Sportpsychologin Frauke Wilhelm kürzlich der Zeit. "Sie achten mehr darauf, ob es ihnen gut geht, und weniger auf dieses autoritäre, gehorsame ›Da muss ich jetzt durch‹."

Auch Elisabeth Seitz, Deutschlands Rekordturnerin mit 23 Meistertiteln, geht heute achtsamer mit sich um als früher. Im Buch "Am Limit – Wie Sportstars Krisen meistern" sagt sie: "Vor Jahren dachte ich immer, ich müsse stark sein. Früher habe ich mich immer ins Training geschleppt, auch wenn es mir nicht gut ging. Heute ruhe ich mich aus. Ich gehe gnädiger mit mir um."

Schaden öffentliche Bekenntnisse?

Es sind vor allem Sportler:innen, die am Ende ihrer Karriere stehen, die offen über ihre Bedürfnisse und mentalen Rückschläge sprechen. Sie müssen niemandem mehr etwas beweisen, sind nicht mehr so abhängig von Ergebnissen oder Nominierungen. Noch immer aber fürchten sich viele Leistungssportler davor, dass ihnen solche Bekenntnisse schaden und im schlimmsten Fall zum Karriereende führen könnten.

"Ganz von der Hand zu weisen sind solche Befürchtungen sicherlich nicht," bestätigt Dr. Valentin Z. Markser. Der Sportpsychiater, der Ex-Nationaltorwart Robert Enke behandelte, gibt aber zu bedenken: „Kreuzbandrisse im Profifußball, durch die manche Spieler bis zu einem halben Jahr ausfallen, werden akzeptiert. Ich würde mir wünschen, dass so auch bei psychischen Erkrankungen gedacht und gehandelt wird."

"Der Leistungssport schadet nicht der seelischen Gesundheit, aber er stellt für viele Sportler eine Gefährdung dar."

Quelle: Dr. Valentin Z. Markser, Sportpsychiater

Markser weist zudem darauf hin, dass mentale Stärke nicht gleichzusetzen sei mit seelischer Gesundheit. Viele Athleten seien mithilfe von Mentaltraining in der Lage, sportliche Höchstleistungen zu erzielen, obwohl sie an seelischen Störungen leiden. Er wünscht sich, dass Vereine und Verbände nicht nur Mentaltrainer und Sportpsychologen beschäftigen, sondern auch Fachleute aus der Sportpsychiatrie.

Diese könnten dabei helfen, dass immer mehr Sportler:innen gestärkt aus mentalen Krisen hervorgehen. Wie der italienische Schwimmstar Gregorio Paltrinieri. Der überwand nach einer Viruserkrankung eine depressive Phase, schwamm bei den Olympischen Spielen in Tokio befreit von allzu großem Druck und holte sich Bronze.

"Verwundbar als Mensch"

Auch Simone Biles kehrte in Japan in den Wettkampf zurück und gewann Bronze am Schwebebalken. Mitte September sagte der Turnstar dem US-Magazin Time: "Jahrelang wurde mir nur gratuliert, wenn ich als Sportlerin gewonnen hatte. Jetzt beglückwünschen mich die Menschen dafür, dass ich mich als Mensch verwundbar gezeigt habe." Das sei sie nicht gewohnt, aber es sei schön.