Sexueller Missbrauch im Sport "Safe Sport" - Schutz und Hilfe für Opfer sexualisierter Gewalt

Stand: 25.10.2021 08:41 Uhr

Sexueller Missbrauch im Sport bleibt oft ungeahndet. Die Taten sind schwer nachweisbar - und oft schaffen es Betroffene erst Jahre später, sich zu offenbaren. Die Initiative "Safe Sport" des Vereins Athleten Deutschland will das ändern.

Von Andreas Bellinger, Hendrik Maaßen, Andreas Becker

Als sie ihren Wettkampf nach dem ersten Sprung im Team-Finale abbrach, verstanden die Zuschauer der Olympischen Spiele in Tokio weltweit zunächst nicht, was den Turn-Superstar dazu gebracht hatte. Wer Simone Biles, die vierfache Olympiasiegerin von 2016, während einer Anhörung vor dem US-Senat in Washington vor wenigen Wochen sah, kann jedoch erahnen, welchen psychischen Qualen die heute 24-Jährige im Missbrauchsskandal rund um das US-Team ausgesetzt war. Sexualisierte Gewalt gehört global zu den größten Risiken, denen nicht nur Frauen ausgesetzt sind. Auch hierzulande wird das Problem noch zu oft tabuisiert - und die Betroffenen scheinen die Last oft allein tragen zu müssen. Der Verein Athleten Deutschland will dem entgegenwirken und ein bundesweites Zentrum namens "Safe Sport" gründen.

Forschungsprojekt: Mehr als ein Drittel Betroffene

Wie dringlich eine Initiative dieser Art ist, zeigt ein Forschungsprojekt aus dem Jahr 2016, bei dem 37 Prozent der Kaderathletinnen und Kaderathleten angaben, mindestens einmal sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. So wie im mutmaßlichen Missbrauchsfall, über den der NDR Sportclub vor einem halben Jahr berichtet hat. Ein Tennistrainer aus dem Hamburger Umland soll über mehr als 30 Jahre seine Schülerinnen sexuell missbraucht haben. "Es ist ein kaltes Gefühl und du willst einfach weg - aber du kannst nicht", erzählte ein ehemaliges Tennistalent. Die Betroffene war zehn Jahre alt, als sie ihr Trainer das erste Mal angefasst haben soll. Die Übergriffe gingen weiter, bis sie volljährig war. Erst als sie eine andere Betroffene kontaktierte, schafften sie es, ihren Übungsleiter anzuzeigen.

Wer schützt die Opfer?

Der Beschuldigte teilte dem NDR schriftlich mit, dass er alle Vorwürfe bestreite. Die Staatsanwaltschaft in Kiel ermittelt seit 2019. Ob die Beweise allerdings für eine Anklage reichen, scheint nach wie vor fraglich zu sein. "Er hat das mal gemacht; das reicht uns Juristen nicht aus", sagt der zuständige Oberstaatsanwalt Axel Bieler. Es gilt der Rechtsgrundsatz: im Zweifel für den Angeklagten. Aber wer schützt die Betroffenen, damit der Kampf um Gerechtigkeit nicht ungerecht wird?

Konzept für "Safe Sport" wird geprüft

Der organisierte Sport scheint überfordert zu sein, wenn es um Hilfe und Unterstützung für Betroffene geht. Davon ist Maximilian Klein vom Verein Athleten Deutschland jedenfalls überzeugt. In der Sportclub Story zeichnet er ein desolates Bild der Strukturen, in denen Hinweise versanden oder ihnen gar nicht nachgegangen werde. "Der Prozess, wie Hilfesuchende und Betroffene an Unterstützung kommen, ist teilweise ein absolutes Chaos", sagt er. Vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages hat Klein das Konzept eines Zentrums für "Safe Sport" vorgestellt, das vom Bundesinnenministerium (BMI) bis Mitte Dezember auf Machbarkeit geprüft werden soll.

Ein solches Zentrum für "Safe Sport" käme durchaus einer kleinen Revolution gleich. Die Idee beinhaltet nämlich auch eine Gewaltenteilung ähnlich wie bei der NADA, der Nationalen Anti-Doping Agentur. Das Zentrum könnte ohne das Mitwirken eines Verbandes beispielsweise einen Trainer sperren, der mehrfach übergriffig geworden ist, aber nicht verurteilt wurde.

DOSB reagiert zurückhaltend

"Das Feedback war innerhalb ganz kurzer Zeit sehr positiv", sagt Klein. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) dagegen scheint momentan mehr mit seiner Führungskrise beschäftigt zu sein. Der DOSB unterstütze zwar "die Einrichtung einer bundesweiten unabhängigen Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt", sagt die für Frauen und Gleichstellung verantwortliche Vizepräsidentin Petra Tzschoppe. Die Idee eines Zentrums für "Safe Sport" halte sie laut "Süddeutsche Zeitung" aber angesichts von 90.000 Vereinen in Deutschland "für schwer umsetzbar". Der organisierte Sport sei schon lange im Bereich Prävention aktiv und baue seine Expertise weiter aus, so Tzschoppe.

Tennis Bund entwickelt Schutzkonzept

Wenig überzeugend klingen auch die Konsequenzen, die der Deutsche Tennis Bund (DTB) angesichts der Vorwürfe gegen den Tennistrainer gezogen hat. Der Verband habe "in den vergangenen Jahren ein hohes Maß an Sensibilität und Aufmerksamkeit auf dieses gesamte Thema gelegt", sagt DTB-Vizepräsident Raik Packeiser. "Wir haben ein Schutzkonzept entwickelt, wir haben gemeinsam mit unseren Landesverbänden daran gearbeitet, die Sensibilität, die auch in der gesamten Gesellschaft zu dem Thema gestiegen ist, entsprechend in reales Handeln zu überführen, um dafür zu sorgen, dass solche furchtbaren Fälle nicht passieren."

Mutmaßliches Opfer: "Niemand, der zuhört"

Doch damals fühlte sich die Betroffene alleine gelassen. "Die haben gesagt, er wird nie wieder Fuß fassen im Tennisbereich Schleswig-Holstein, und drei Monate später kriegt er eine Festanstellung in einem Tennisverein. Da fühlt man sich als Mädel, dem so was passiert ist, verarscht", erzählt das eigenen Darstellungen zufolge jahrelang misshandelte Toptalent, das sich vom Tennis abgewendet hat und in der Sportclub Story überdies berichtet: "Du hast niemanden, der eigentlich wirklich zuhört. Du hast niemanden, der dich an die Hand nimmt und sagt: 'Okay, wir müssen das angehen, der muss bestraft werden.'"

Was immer Vereine und Verbände tatsächlich tun, es scheint nicht auszureichen, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Wie können potenzielle Opfer geschützt werden, wie können sie sich selbst schützen? Welche Mechanismen, welche Strukturen, welche organisatorischen Möglichkeiten gibt es oder müssen geschaffen werden, um Täter zu stoppen oder wenigstens zu entlarven und zu bestrafen? Und wie können auf der anderen Seite Beschuldigte vor unberechtigten Vorwürfen oder gar übler Nachrede geschützt werden?

Turnstar Biles: Ein ganzes System, das Missbrauch ermöglicht

"Ich möchte nicht, dass weitere junge Turnerinnen, Olympionikinnen oder andere Personen den Horror durchmachen müssen wie ich und Hunderte von anderen", hat Simone Biles vor dem Untersuchungsausschuss gesagt - und unter Tränen hinzugefügt: "Für mich liegt die Schuld natürlich bei Larry Nassar, aber auch bei einem ganzen System, das Missbrauch ermöglicht und begünstigt hat." Der heute 58 Jahre alte ehemalige Arzt der US-Turnerinnen war im Januar 2018 wegen massenhaften sexuellen Missbrauchs von Frauen und Mädchen zu einer Haftstrafe bis ans Lebensende verurteilt worden.

Auch das FBI sah weg

Verantwortung hat bis dato niemand übernommen. Schlimmer noch: Steve Penny, früherer Präsident von USA Gymnastics, wurde verhaftet, weil er Beweise vernichtet haben soll. Auch das FBI sah weg, ignorierte Hinweise. "Welchen Sinn hat es, Missbrauch zu melden, wenn unsere FBI-Agenten einfach entscheiden, die Aussagen in der Schublade verschwinden zu lassen", fragte sich nicht nur McKayla Maroney, Mannschafts-Olympiasiegerin von 2012. "Sie hatten Beweise für Kindesmissbrauch und haben nichts getan!"

Die scheinheilige Strategie der Täter

Die Muster scheinen sich zu ähneln, wie ein mutmaßliches Opfer dem NDR sagt: "Die bauen das freundschaftlich auf. Scheinheilig, man kriegt es nicht mit." Das Vertrauen zum Trainer und der Gedanke, dass es wohl nur ein Ausrutscher war, überdeckten das Unwohlsein und lassen die meist jungen Opfer erst einmal schweigen. Und es passiert immer im Verborgenen, in Eins-zu-Eins-Situationen. Wenn einem Trainer dazu der Ruf vorauseilt, Talente besonders gut und schnell zu formen, lassen sich auch Eltern viel zu leicht blenden.

Kinderschutzexpertin: Vereine fürchten Skandale

"Dass sie sich in besonderem Maße engagieren, ist genau eine Strategie von Tätern", sagt die Erziehungswissenschaftlerin und Traumatherapeutin Ursula Enders. "Erwachsene sind ihnen dankbar dafür, und auch bei den Kindern sind sie sehr beliebt. Genau deshalb können Betroffene hinterher nicht darüber sprechen."

Im Film "Blick hinter die Maske“ präsentierte die Kinderschutzexpertin, die sich seit gut 40 Jahren mit Täterstrategien beschäftigt, unlängst beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), wie Täter vorgehen, ihre Opfer auswählen und austesten, wie weit sie gehen können. Auch beim mitgliederstärksten Fußball-Verband der Welt gibt es derlei Vorfälle. Viele Vorstände, resümiert die Leiterin der Kölner Beratungsstelle "Zartbitter", fürchteten jedoch mehr, "dass der Ruf des Vereins durch Skandale in den Dreck gezogen werde, als dass sie um den Schutz von Mädchen und Jungen besorgt sind".

Dieses Thema im Programm:
Sportclub | 24.10.2021 | 23:35 Uhr