"Der Erfolg eines multiethnischen Italiens" Fußball, Leichtathletik, Volleyball - Italiens magischer Sportsommer

Stand: 21.09.2021 08:08 Uhr

Viele Medaillen und ein neues "Wir-Gefühl" - Italiens Erfolge im Sport erzählen von der Kraft der Veränderung und von Zusammenhalt. Über einen azurblauen Sommer und ein Land, das sich selbst bejubelt.

Von Jörg Seisselberg (Rom)

Kalendarisch ist der Sommer vorbei. Aber in Italien wünschen sie, er bliebe ewig. "Dieser magische Sommer möge niemals enden", titelt der "Corriere della Sera" und unterlegt den Wunsch mit Bildern des Fußball-EM-Triumphes in Wembley, dem Olympiajubel von Marcell Jacobs und Gianmarco Tamberi sowie den aktuellen Erfolgen der italienischen Volleyballer und Radfahrer.

Ein magischer Sportsommer, in dem Italien aus dem Jubeln kaum herausgekommen ist. In dem fast alles, was italienische Sportlerinnen und Sportler anpackten, zu Gold wurde. Und Ministerpräsident Mario Draghi nur schwer hinterherkam mit seinen Glückwunschschreiben.

Italien, eine "Supermacht im Sport"

Alles hat am 11. Juni begonnen mit dem Sieg der italienischen Fußballer bei der Europameisterschaft, wenige Stunden nachdem Tennisspieler Matteo Berrettini als erster Italiener ein Wimbledon-Finale bestritten hatte.

Es folgten 40 Medaillen bei Olympia inklusive Gold über 100 Meter, 69 Medaillen bei den Paralympics, Italiens Volleyballerinnen haben den EM-Titel geholt und die Männer es ihnen gleich getan, im Radsport triumphierte Sonny Colbrelli im Straßenrennen und Filippo Ganna im Zeitfahren, zeitgleich räumten Italiens Kanufahrer bei der Weltmeisterschaft ab. Sogar im Softball holten Italiens Frauen EM-Gold.

Hätte es in diesem Sommer eine Weltmeisterschaft im Schlittenhunderennen gegeben, wahrscheinlich hätten auch dort Italienerinnen und Italiener gewonnen. Italien sei "eine Supermacht im Sport geworden", bilanziert "La Repubblica" stolz am Ende dieses azurblauen Sommers.

So einhellig die Freude in Italien über den eindrucksvollen Medaillenregen der vergangenen zwei Monate ist, so vielfältig sind die Erklärungen der Experten für die so unterschiedlichen und teilweise völlig überraschenden Triumphe.

Beispiel die Goldmedaille von Jacobs. Der Technische Direktor des Italienischen Leichtathletik-Verbands, Antonio La Torre, verweist darauf, dass der Trainingsbetrieb dieser Sportart vor gut zwei Jahren landesweit modernisiert wurde.

Aus einem Tabu wurde ein Standard

Verdiente Altvordere wurden vor die Tür gesetzt und Laptop-Trainer eingestellt, die konsequent auf wissenschaftlich bewährte Trainingsmethoden setzen und eng mit dem Sportwissenschaftsinstitut des Nationalen Olympischen Komitees zusammenarbeiteten sollten.

Auch während der Pandemie, in der in Italien viele Monate selbst die Industrie stillstand, trainierten Italiens Athletinnen und Athleten weiter. Sportpsychologen, lange Zeit in Italien tabu, wurden Standard.

Seine Mentaltrainerin, erzählt Jacobs, habe einen großen Anteil an seiner Goldmedaille. Die Dopingspekulationen? In Italien zucken sie genervt mit den Schultern und verweisen auf Medaillen auch in technischen Sportarten, in denen Doping keine Erfolge bringe.

"Der Erfolg eines multiethnischen Italiens"

Giovanni Malagò, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, glaubt, die Siege seien zudem die Folge einer gesellschaftlichen Modernisierung des Landes. Die Olympiabilanz beispielsweise sei "der Erfolg eines multiethnischen Italiens", sagt Malagò. Die italienischen Medaillengewinner in Tokio seien auf allen fünf Kontinenten geboren und in Italien gut integriert.

Eine Erfahrung, aus der der Sportfunktionär eine Forderung an die Politik ableitet: Die Einbürgerung gerade von jungen Menschen mit ausländischen Wurzeln solle in Italien leichter werden, es würde das Land stärker machen.

In mehreren Sportarten hat Italien auch bewiesen, dass eine Krise eine Chance sein kann – wenn der Mut da ist, alte Zöpfe abzuschneiden und einen Neuanfang zu wagen. Wie im Fußball. Und in gewisser Weise auch im Volleyball. Wo am Wochenende der neue Trainer Ferdinando De Giorgi mit der jüngsten Mannschaft des Turniers erfolgreich war.

Kollege Roberto Mancini hat ebenfalls vielen Jungen eine Chance gegeben, vor allem aber den Spielstil der italienischen Fußballnationalmannschaft umgekrempelt. Nach dem historischen Scheitern in der WM-Qualifikation hatte Italiens Fußball die Courage zur Erneuerung.

Italiens neues "Wir-Gefühl"

Viele Erfolge, viele Erklärungen - aber auch eine Gemeinsamkeit: das Wir-Gefühl. Von dem sprechen die Fußballer. Die Volleyballer. Und sogar die eigentlich per Definition individualistischen Leichtathleten. Zu den Geheimnissen der Siege von Jacobs, Tamberi und Co. gehöre, sagt Leichtathletik-Direktor La Torre, dass das "Konzept des Ich, von einem Konzept des Wir" abgelöst worden sei.

Italien, von der Pandemie schwer gebeutelt, ist in den Covid-Monaten zusammengerückt, hat ein neues Gefühl des Miteinander entwickelt. Vielleicht werden Soziologen irgendwann mal untersuchen, ob es eine Verbindung gibt von den Mut machenden, solidarischen Gesängen auf den Balkonen zu den sportlichen Erfolgen der Italienerinnen und Italiener. Fest steht, dass das sportliche "Wir-Gefühl" der vergangenen Monate getragen wurde von einem gesellschaftlichen "Wir-Gefühl" – und sich beides in einem gleichsam dialektischen Prozess verstärkt hat.

Es gebe keinen Algorithmus, mit dem sich dieser "unglaubliche azurblaue Sommer" erklären ließe, schreibt "La Repubblica". Um dennoch mit dem sportlichen Erfolg den Wunsch zu verbinden, er solle Blaupause sein für einen sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung im Land nach der Pandemie. Es wäre schön, heißt es im "Repubblica"-Kommentar, wenn sich die Italienerinnen und Italiener davon überzeugen könnten, dass "unter der Oberfläche ihrer Erfolge ein unentdeckter Kontinent liegt voll mit Ressourcen, Kraft und Hartnäckigkeit." Auf dass der Sommer endet, vom Erfolgsspirit aber etwas bleibt.