Der US-amerikanische Sprinter Noah Lyles feiert seinen Sieg im Finale über 200 Meter bei der Leichtathletik-WM in Eugene.

Busemanns WM-Kolumne Wer Leistung bringt, darf auch Show machen

Stand: 22.07.2022 14:12 Uhr

US-Sprinter Noah Lyles ist der beste Beweis für die These von ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann: Sportliche Qualität ist die Voraussetzung für Entertainment im Stadion. Wer sich beim Showmachen verstellt und nicht bei sich bleibt, der verliert seine Authentizität.

Ich hatte heute ein Déjà-vu. Ein doppeltes. Das eine ist 26 Jahre her, das andere 13 Jahre. Der Protagonist oder Auslöser dieser Sinnestäuschung ist ein gewisser Noah Lyles. Früher lief der gern mit Heide-Rosendahl-Gedächtnissocken durch die Gegend. Manchmal hatten die sogar Flügelchen.

Das 200-Meter-Finale stand an - und das Publikum auf. Dann trommelten die Läufer die Bahn hinunter und das Stadion begann zu brodeln. Lyles erreichte das Ziel und die Uhr stoppte bei 19,32 Sekunden.

1996 - bei den Olympischen Spielen in Atlanta - lief Michael Johnson eben diese Zeit und in seismografischen Messstationen dürfte man damals wie heute eine Erdebenaktivität rund ums Stadion abgelesen haben können. Die Masse tobte und brachte den Kessel zum Überlaufen. Das war verdammt schnell.

Trikot-Zerreißen wie aus dem Lehrbuch

Und dann macht er noch den Mini-Harting: Ratzfatz war das Trikot durch. Zerrissen und zerfetzt. In Lumpen hing es ihm am Leib herab. Wie bei Robert Harting nach dessen Diskus-Triumph 2009 in Berlin. Muss man das vorher üben? Gibt es eine Sollrissstelle? Schafft man das nur mit Adrenalin? Oder kann man da nur Klamotten minderer Qualität für nutzen? Gibt es einen Art-Director für Dramaturgie und Inszenierung? Gibt es eine Do-it-yourself-Anleitung von Robert Harting, der den perfekten Riss in einem Video erklärt? Egal! Der Effekt zählt - und er hat's geschafft. Ratsch.

Komplexes Anforderungsprofil für Superstars

Und das ist nicht nur bei Trikot-Zerreißen so. Spätestens seit Einführung des Profitums bei Olympia steht in der Stellenbeschreibung als Anforderung für den gut zu vermarktenden Athleten: "Besondere Kenntnisse in der Emotionalisierung des Fachpublikums" und "Ikonenhafte Zurschaustellung des finalen Triumphs zur Möglichkeit der Anfertigung geeigneten Bildmaterials" sind vonnöten. Dafür muss man irgendwelche Faxen machen, eine Pose einstudieren, witzig sein, grimmig sein oder irgendwelche Rekorde aufstellen.

Wer Leistung bringt, darf (fast) alles

Alles in Summe ist von Vorteil. Nur dann kann man auch den Larry raushängen lassen - wenn Leistung auf Unterhaltung trifft. Alles andere ist albern. An den Mini-Ronaldo bei den Mini-Kickern haben wir uns gewöhnt. Der Harting-Fetzer bei den Leichtathleten wird schnellstmöglich von Mama unterbunden, da Trikots teuer sind.

Im amerikanischen Lifestyle ist ein bisschen Gaga fast normal. In der deutschen Kultur wird man schnell in ganz schräge Ecken verschoben, müde belächelt oder wild zurechtgewiesen. Da bekommt man Andersartigkeit sofort links und rechts um die Ohren gehauen, wenn man nicht performt. Wer nicht dem Mainstream entspricht, ist angreifbar, muss immer besser sein als Otto-Normal-Sportler. Das muss man als Athlet mögen oder aushalten.

Ein bisschen Show muss sein

Der vielzitierte USP, das Alleinstellungsmerkmal, lässt sich immer wieder im Zirkus der Großen erkennen. Shelly-Ann Fraser-Pryce ist nicht nur schnell und mega-erfolgreich, sondern hat zum Beispiel eine besondere Haarfarbe. Ich glaube echt, die ist nicht echt. Shericka Jackson hingegen, die ist nur schnell gelaufen. Sehr schnell, das macht sie besonders - und sie ist jetzt die zweitschnellste Frau hinter Florence Griffith-Joyner.

Shericka Jackson holt WM-Gold über 200 m

Sportschau, 22.07.2022 04:35 Uhr

Ach ja, bei der war doch auch noch irgendwas. Ein bisschen Show muss sein. Ein bisschen Show darf sein. Das hebt den Wiedererkennungswert, ist aber nur etwas für Profis. Man muss es vom Typ auch mögen, anders zu sein. Wer sich verstellt, der verliert seine Authentizität - und dann geht der Schuss nach hinten los. Solange man bei sich bleibt, hat man viel Puffer nach außen. Noah Lyles hat das breiteste Grinsen, die lauteste Startpose, die schnellsten Beine.

Smith und Carlos waren ihrer Zeit voraus

Zwei ganz Große der Geschichte wurden im Hayward Field in Eugene begrüßt: Tommie Smith und John Carlos, die bei der Siegerehrung der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko-City ihre schwarz behandschuhten Hände in die Höhe reckten und für die Bewegung Black Power standen, wurden dafür aufs Schärfste verurteilt und angegangen.

Damals. Heute sind sie rehabilitiert, sie werden weltweit bewundert und geachtet. Sie waren ihrer Zeit voraus. Jahre voraus. Das war ein politisches Statement mit der Gefahr, dass sie alles verlieren. Heutzutage ist politische Meinungsbekundung auch nicht erwünscht, vielmehr geht es um seichte Unterhaltung. Ein gehöriger Unterschied.

Goldene Schuhe kann nicht jede(r) tragen

Wenn Athleten Leistung bringen und dann noch Spaß an ein bisschen Entertainment haben, ohne ihre sportlichen Qualitäten zu vernachlässigen, freut das Fans und Veranstalter.

Aber es ist nicht leicht. Verlangen darf man das nicht. Oft wundern wir uns, aber nachher reden wir darüber. Und dieser Michael Johnson hatte damals goldene Schuhe an. Das schrieb mir gestern jemand. Recht hat er, da war doch was ... 

Das ist Frank Busemann

Geboren:
26. Februar 1975 (Recklinghausen)
Disziplinen:
Zehnkampf, Hürdensprint
Sportliche Erfolge:
Olympia-Silber 1996 (8.706 Punkte)
WM-Bronze 1997 (8.652 Punkte)
U23-Europameister 110 m Hürden 1997 (13,54 Sek.)
Juniorenweltmeister 110 m Hürden 1994 (13,47 Sek.)
Auszeichnungen:
Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis 2004
Sportler des Jahres 1996
Karriereende:
23. Juni 2003
Karriere nach der Karriere:
Vorträge/Seminare zum Thema Motivation
Buch-Autor
ARD-Leichtathletik-Experte
(Morgenmagazin, Das Erste, sportschau.de)

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 15.07.2022 | 20:20 Uhr