Zehnkämpfer Niklas Kaul bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio.

Busemanns WM-Kolumne Im DLV-Team ist jetzt die "Abteilung Attacke" gefordert

Stand: 21.07.2022 13:46 Uhr

Sechs WM-Tage sind vorbei. Deutschland steht im Nationen-Ranking noch immer ohne Medaille da - auf Rang 41. Die Enttäuschung darüber ist auch ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann anzumerken. Er wünscht den Athletinnen und Athleten mehr Glaube an die eigenen Stärken - und gibt in seiner Kolumne das Motto für die nächsten Wettkämpfe aus.

Endlich! Der weibliche Joker hat gestochen und eine Nation feiert, die Athletin macht Freudensprünge, ist glücklich und zufrieden. Und die Funktionäre und Trainer erstmal. Die Zuschauer sowieso, haben sie an den heimischen Bildschirmen doch mitgefiebert und lautstark angefeuert. Am sechsten Tag gab es die langersehnte Medaille - für Kroatien. Silber durch Diskuswerferin Sandra Perkovic.

Dabei hatten wir doch so darauf gehofft, dass endlich eine deutsche Athletin an der Reihe ist. Drei Diskus-Damen im Finale, dazu noch die aktuelle Silbermedaillengewinnerin der letzten Olympischen Spiele - Kristin Pudenz - in den eigenen Reihen. Da kann doch was gehen.

Superstars gewinnen auch mit schlechten Karten

Aber der Leistungssport - und im Speziellen der Hochleistungssport - hat seine eigenen Gesetze. Sonst wäre es ja langweilig. Im Reiz des Wettkampfs werden die Karten immer neu gemischt und Superstars sind Superstars, weil sie auch mit schlechten Karten immer irgendwoher den Trumpf ziehen, der letztlich sticht. Plötzlich verselbstständigen sich Gedanken, und die Dynamik des Wettkampfs fährt in die entgegengesetzte Richtung.

"Die da vorne" bekommen einfach mehr Aufmerksamkeit

Bis zum sechsten WM-Tag war der zehnte Platz von Jaqceline Otchere im Stabhochsprung die beste Platzierung des DLV. Gerne wird von Funktionärsseite auf die Wichtigkeit der Nationenwertung hingewiesen, in der alle Endkampfplatzierungen - und nicht nur stumpf die Medaillen - ins Gesamtbild einfließen.

Um die Durchschlagskraft eines Teams zu bewerten ist das sicherlich ein triftiges Argument. Leider liegt es aber in der Natur des Sports, dass die da vorne irgendwie mehr Aufmerksamkeit bekommen, als die, die nur gut mitgemacht haben. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass der achte Platz bei Weltmeisterschaften exorbitant gut ist. Folglich sind 8.002.182.143 Menschen schlechter.

Keine Vorwürfe an die, die alles geben

Athleten vorzuwerfen, dass sie unfähig sind, ist nicht der richtige Weg und einfach unfair. Solange sie alles geben und in ihrem Rahmen abliefern, kann man ihnen nichts vorwerfen. Sie sind die Besten unseres Landes und wurden nicht ausgelost, sondern haben sich im sportlichen Vorentscheid für höhere Aufgaben empfohlen.

Glaube an die eigenen Stärken ist wichtig

Wenn die besten Vertreter eines Landes nicht den durchschlagenden Erfolg erreichen, wie erhofft, dann muss das System hinterfragt werden. Warum schaffen es Nationen wie die Niederlande oder die Norweger, so erfolgreich zu sein?

Die Amerikaner laufen mit Quantität und Qualität ohnehin in einer anderen Liga. Die patriotische Identifikation mit Nationalstolz und gewachsener Kultur der Leistungsgesellschaft prägt das ganze Land. Viele fallen hier durch das Raster, aber einige, die "überleben", werden gut. Verdammt gut. Der "American Lifestyle" hat einfach viel mehr Showelemente. Kämen wir in Deutschland so daher, würde uns ein jeder den berühmten Vogel zeigen. Aber ich muss auch daran glauben, dass ich performe. All das wissen die Athleten, und sie versuchen es umzusetzen.

Erfolg macht einfach mehr Spaß

Wir können aber auch hoffen, dass unsere Disziplinen noch kommen. Traditionell sind wir am Anfang eher etwas schlechter und kommen dann hintenraus. Man kann sich aber nicht darauf verlassen, denn es ist doch immer wieder ein Anfang bei Null, der den Wettkampf startet.

Erfolg macht mehr Spaß. Eine miese Grundstimmung schwappt von leichter Verfehlung, über Angst und Panik schnell zu Hilflosigkeit um. Krisenmanager brauchen ein dickeres Fell als die Partydirektoren.

Leistungssport ist "psycho"

Hinter jedem Schicksal steht hier eine eigene Geschichte. Konstanze Klosterhalfen hat sich ihre Corona-Erkrankung nicht ausgesucht. Gesa Krause hat sich trotz fehlender Form ins Ziel geschleppt. Aufgeben war keine Option. Die Diskus-Frauen konnten nicht ahnen, dass ein Nobody aus China das gesamte Feld aufmischt.

Leistungssport ist "psycho" - und das macht ihn auch so schön. Jetzt stehen wir aber leider auf der anderen Seite.

Krause selbstkritisch: "Sehr frustrierende Leistung"

Sportschau, 21.07.2022 04:45 Uhr

Jetzt kann es nur weiter nach vorne gehen

Claudine Vita war eigentlich die Schwächste im deutschen Diskus-Dreiergespann, performte mit Platz fünf aber am besten. Damit sind wir im Nationen-Ranking nach oben gerutscht. Ein bisschen, ein klitzekleines bisschen. Zumindest sind wir jetzt schon mal vor Tonga und Bhutan.

Aber das Gute an der Ausgangslage ist: Es kann nur weiter nach vorne gehen. Jeder, der in seinem Rahmen das Ziel erreicht, hat in der derzeitigen Grundstimmung "outperformed" und einen tiefen Erleichterungsseufzer der Führungsriege erzeugt.

Überraschungen sind auch im Sport am schönsten

Deutsche Medaillenchancen gibt es bei der WM in Eugene nicht mehr viele. Bei den letzten Weltmeisterschaften gewann der DLV jeweils fünf bis neun Medaillen - das werden wir nicht mehr schaffen. Aber jetzt von "Schadensbegrenzung" zu sprechen, wäre der falsche Ansatz.

Jetzt wird das Messer gewetzt; "Abteilung Attacke" muss das Gebot der Stunde sein. Bei den noch folgenden Entscheidungen fangen alle bei Null an. Und Überraschungen sind ohnehin am schönsten.

 

Das ist Frank Busemann

Geboren:
26. Februar 1975 (Recklinghausen)
Disziplinen:
Zehnkampf, Hürdensprint
Sportliche Erfolge:
Olympia-Silber 1996 (8.706 Punkte)
WM-Bronze 1997 (8.652 Punkte)
U23-Europameister 110 m Hürden 1997 (13,54 Sek.)
Juniorenweltmeister 110 m Hürden 1994 (13,47 Sek.)
Auszeichnungen:
Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis 2004
Sportler des Jahres 1996
Karriereende:
23. Juni 2003
Karriere nach der Karriere:
Vorträge/Seminare zum Thema Motivation
Buch-Autor
ARD-Leichtathletik-Experte
(Morgenmagazin, Das Erste, sportschau.de)

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 15.07.2022 | 20:20 Uhr