Der norwegische Hürdensprinter Karsten Warholm (M.) im Finale über 400 m Hürden während der Leichtathletik-WM 2022 in Eugene.

Busemanns WM-Kolumne Warholm bleibt ein Superheld - mit menschlichen Kräften

Stand: 20.07.2022 13:32 Uhr

400-m-Hürden-Weltrekordler Karsten Warholm stellte sich nach seiner Verletzung der Riesenherausforderung WM-Titelverteidigung. Das Vorhaben scheiterte. ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann atmet erleichtert auf, denn jetzt steht fest: Der Norweger ist und bleibt ein Superheld - mit menschlichen Kräften.

Es gibt ja immer so Athleten, denen werden Superkräfte nachgesagt. Unschlagbar sollen sie sein, ungeahnte Fähigkeiten haben, den anderen weit überlegen. Eigentlich müssten sie mit Umhang und Augenbinde durchs Stadion fliegen. Wir himmeln sie an, und wir bewundern sie ob ihrer erstklassigen Leistung. Superheldengleich kreieren sie Rekorde, Momente und Erfolgsgeschichten.

Der Norweger Karsten Warholm ist so einer - seines Zeichens Olympiasieger, Weltmeister und Weltrekordler über 400 m Hürden. Wenn der antritt, dann winkt der Buchmacher ab. Seit einiger Zeit lässt er Statistiker Werte in Rekordbücher schreiben, die Druckfehler sein könnten.

Die große Kunst des In-den-Körper-Hineinhörens

Zum Saisoneinstieg verletzte er sich. Das ist doof. Das ist aber auch Leistungssport. Der Körper ist das Potenzial, die Währung. Es kann sein, dass er streikt. Dann kann der Sportler nicht seiner gewohnten Tätigkeit nachgehen. Und dann muss schnell wieder die alte Ausgangsfähigkeit hergestellt werden.

Doch wann und wie? Die WM ist ein festes Datum, auf das alle hintrainieren. Wenn der Athlet verletzt ist, dann wird er schlechter und die anderen besser - soweit die Rechnung. Wenn der Athlet die Verletzung nicht auskuriert und zu früh wieder anfängt, dann wird die Lücke zu den anderen noch größer und er fängt noch weiter unten an. Da kommt Panik auf. Das Hineinhorchen in den Körper - mit Zuversicht, Sensibilität und ohne Angst - ist eine große Kunst. Das Abwägen und Einschätzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu jeder Situation ist so ein Superhelden-Skill, der vonnöten ist.

Keiner kennt die Trainingsweltmeister

Athletinnen und Athleten verbringen 98 Prozent ihres Sportler-Daseins mit dem Training, der Vorbereitung, der Präparation für diese paar Sekunden, die sie dann auf einer Weltbühne unsterblich machen. Die Trainingsweltmeister hingegen kennt keiner.

Warholm hat lange gebraucht, um seine Wettkampffähigkeit wieder herzustellen. Den Wiedereintritt in den Wettkampf-Zirkus musste er verschieben. Doch in Eugene stand er hinter dem Startblock. Und wenn der Norweger antritt, dann ist er konkurrenzfähig, so die einhellige Meinung. Doch im Finale verließen ihn nach 200 Metern die Kräfte. Er wollte es nicht wahrhaben, dass es nicht ging. Er zog in alter Warholm-Manier das Ding durch, soweit es ging.

Warholm stellt sich scheinbar unmöglichen Herausforderungen

Allerdings ist das auch eine Superheldenfähigkeit: Sich Herausforderungen zu stellen, die nicht möglich scheinen. Als er im vergangenen Jahr unter 46 Sekunden lief, da musste er auch genauso sauschnell angehen. Jeder halbwegs vernünftige Mensch hätte diese abnorme Überanstrengung zu Beginn des Rennens unterlassen, da er das Ziel lebend erreichen wollte. Nicht so Warholm und im Sog seine Kollegen.

Plan B reichte glücklicherweise nicht zum WM-Titel

Im Finale in Eugene versuchte er alles, um seinem Mythos gerecht zu werden, um seine eigenen Erwartungen und die der Zuschauer zu erfüllen. Doch wo sollte das herkommen? Leistungssport ist eine grenzwertige Belastung, die ganz oft Grenzen verschiebt.

Dazu bedarf es eines stringenten Sportler-Alltags, der auf die letzten Hundertstelsekunden ausgerichtet ist. Jede Stellschraube wird bemüht, um den Körper in Bestform zu bringen. Die Vorbereitung war alles andere als optimal, die Wettkampfhärte fehlte. Das Tempo war Arbeit, die Vorbereitung wurde auf Plan B eingedampft - und zum Glück reichte das in Eugene nicht!

Respekt und Bewunderung sind dem Norweger sicher

Alison dos Santos übernahm mit einer wahnsinnig guten Zeit von 46,29 Sekunden die Rolle Warholms und revanchierte sich für die "Niederlage" bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021. Warholm musste als Siebter die ungewohnte Rolle des Beobachters und Geschlagenen einnehmen.

Wenn der Norweger in Eugene Weltmeister geworden wäre, dann hätte er die Evolution und die Trainingswissenschaft ad absurdum geführt. Aber er wird es überstehen. So geht das Spiel. Eine Verletzung ist Mist, aber kann passieren.

So wie er sich dieser Aufgabe gestellt hat, verschafft ihm das aber auch Respekt und Bewunderung. Und an seinem Mythos hat das nichts geändert. Warholm bleibt ein Superheld. Ein Superheld mit Menschenkräften. Das macht ihn noch sympathischer. 

Das ist Frank Busemann

Geboren:
26. Februar 1975 (Recklinghausen)
Disziplinen:
Zehnkampf, Hürdensprint
Sportliche Erfolge:
Olympia-Silber 1996 (8.706 Punkte)
WM-Bronze 1997 (8.652 Punkte)
U23-Europameister 110 m Hürden 1997 (13,54 Sek.)
Juniorenweltmeister 110 m Hürden 1994 (13,47 Sek.)
Auszeichnungen:
Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis 2004
Sportler des Jahres 1996
Karriereende:
23. Juni 2003
Karriere nach der Karriere:
Vorträge/Seminare zum Thema Motivation
Buch-Autor
ARD-Leichtathletik-Experte
(Morgenmagazin, Das Erste, sportschau.de)

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 15.07.2022 | 20:20 Uhr