Läuferin stützt sich erschöpft auf ihren Knien ab

Zwanghaft Sport treiben Alleingelassen mit der Sportsucht

Stand: 15.10.2022 13:55 Uhr

Sport hält bekanntlich fit und gesund. Wenn zu viel Bewegung aber zur Sportsucht führt, kann das fatale Folgen haben. Ärzte und Psychologen haben dieses Phänomen häufig nicht im Blick.

Von Hajo Seppelt, Kristina Smirnov, Lea Löffler und Bettina Malter

Die meisten Menschen laufen im Schnitt 5.000 Schritte am Tag. Bei Cleo Wohlert (Name von der Redaktion geändert) sind es 55.000. Sie lässt täglich etwa 30 Kilometer hinter sich - zwanghaft. Sie verspürt einen ständigen Drang, sich bewegen zu müssen. "Es ist einfach ein Gefühl, das unangenehm ist. Ein fremdes Gefühl in meinem Körper", sagt die 17-Jährige.

Übermäßig Sport treiben - erst seit Kurzem weiß Cleo, dass sie sportsüchtig ist. Erfahren hat sie das in einer Fachklinik für Psychosomatik am Chiemsee. Während der Behandlung in der Schön Klinik Roseneck sucht sie einen Weg zurück in einen normalen Alltag, der sie nicht ständig zwanghaft in körperliche Grenzbereiche führt. Zur Therapie gehört zum Beispiel auch Stillsitzen lernen – für die Patientin bis vor Kurzem noch so unerträglich, dass ihr Körper dabei anfing zu zittern, sie in Tränen ausbrach.

Sportsucht ist bislang kaum bekannt und erforscht. Es gibt nur wenige zuverlässige Studien. Weltweit sind drei bis fünf Prozent der Sporttreibenden sportsüchtig, so Experten-Schätzungen. In Ausdauersportarten sind demnach bis zu drei Viertel der Athletinnen und Athleten gefährdet, sportsüchtig zu werden. Zu viel Training kann Betroffene in einen ständigen psychischen und physischen Ausnahmezustand führen - sogar lebensbedrohlich werden.

Von einer Sucht zur nächsten

Die Ski-Langläuferin Cleo kommt mit 14 Jahren in den Bundeskader. Als der Leistungsdruck zu hoch wird, beendet sie ihre Karriere. Das Trainingspensum fährt sie allerdings nicht herunter, sie verliert sich stundenlang im Sport. Ihre Familie beobachtet, wie sie immer dünner wird, glaubt, sie sei einem Abnehmwahn verfallen. Deswegen verbieten die Eltern ihr den vielen Sport, setzen sie so quasi auf Entzug. Cleo sucht ein anderes Ventil, rutscht dann tatsächlich in eine Essstörung. Eine Psychotherapeutin analysiert ihr Essverhalten, erstellt Essenspläne. Dass der Sport Cleos eigentliches Problem ist, erkennt die Ärztin nicht.

Kehrseite von Sport oft unbekannt

Karl-Jürgen Bär kennt das Problem, dass Sportsucht von Neurologen, Psychiatern und Psychotherapeuten selten erkannt wird. Er leitet am Universitätsklinikum in Jena die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie und beschäftigt sich mit Sportsucht seit etwa zehn Jahren. Er ist einer der wenigen Experten in Deutschland. "Die Sportsucht ist unter Nervenärzten nicht so bekannt. Ich denke, dass es für sie schwierig ist, den Sportkontext immer im Kopf zu haben", sagt Bär.

"Wie wir die Krankheit behandeln, darüber wissen wir noch wenig"

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Wenn Sportsüchtige eine falsche Diagnose erhalten, kann das extreme Folgen haben. Wie bei einem Windsurfer, 50 Jahre alt, auch er möchte hier nicht namentlich erwähnt werden, wir nennen ihn Christian. Noch vor zwei Jahren bestimmen stundenlanges Training auf dem Wasser, Kraftsport und Triathlontraining seinen Alltag. Als er mal weniger Sport macht, geht es ihm schlechter: extreme Schlafstörungen, Schweißausbrüche, Angstzustände.

Ohne Sport auf Entzug

Dass das die Folgen der Sportsucht sind, weiß er damals nicht. "Einer der schlimmsten Momente war sicher, als ich in der Notaufnahme gelandet bin. Ich hatte so starke körperliche Entzugserscheinungen, dass der Blutdruck durch die Decke ging - superhoher Puls, Herzschmerzen, Schwindel", sagt Christian. Zu diesem Zeitpunkt kann er seinem Beruf nicht richtig nachgehen, auch seine Beziehung zu seiner Frau und seinem Kind leiden.

Um herauszufinden, warum es ihm so schlecht geht, durchläuft er einen regelrechten Ärzte-Marathon: Acht Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen untersuchen ihn. Doch niemand erkennt die Ursache seiner Beschwerden. Christian ahnt, dass der Sport das Problem sein könnte. Durch Zufall gerät er an den Sportpsychiater Karl-Jürgen Bär.

Dass dieser die wahre Ursache seines Leidens fand, "war lebensrettend", sagt Christian. Der unstillbare Bewegungsdrang seines eigentlich erschöpften Körpers führte ihn immer näher an den Abgrund: "Wenn das so weitergegangen wäre, wäre ich irgendwann an den Entzugserscheinungen gestorben oder hätte mir vor lauter körperlichen und seelischen Qualen das Leben genommen."

Sportsucht noch häufig ein Tabu

Auch damit Betroffene künftig schneller Hilfe bekommen, hat Karl-Jürgen Bär vor drei Jahren die Deutsche Gesellschaft für Sportpsychiatrie und Psychotherapie mitgegründet. Durch Weiterbildungen für Interessierte aus dem Sport, Psychologen und Fachärzte möchte Bär über Sportsucht aufklären.

Friederike Morawietz geht das nicht weit genug. "Ich glaube, es ist elementar, dass die Sportsucht als Krankheit anerkannt wird", sagt die 26-Jährige. Sie selbst wusste erst nach vier Klinikaufenthalten, dass sie nicht nur unter einer Essstörung leidet, sondern auch unter Sportsucht. Sie will das Thema bekannter machen, spricht zum Beispiel in ihrem eigenen Podcast "unverhüllt" darüber.

Bislang kaum Hilfsangebote

Bislang ist Sportsucht keine anerkannte Krankheit. Ob sie das wird, darüber entscheidet ein Gremium aus Wissenschaftlern der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dafür braucht es ausreichend Daten – die fehlen im Hinblick auf Sportsucht bislang. Die Sportwissenschaftlerin Flora Colledge forscht in der Schweiz an der Universität Luzern zu Sportsucht. Sie glaubt, die Anerkennung des Leidens als Krankheit hilft schon bei elementaren Dingen, "zum Beispiel, um diese Personen mit Therapieangeboten unterstützen zu können."

"Sportsucht gilt nicht als offizielle Krankheit"

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Bis dahin könne es etwa ein bis zwei Jahre dauern, sagt Colledge. Experten in Deutschland sind skeptischer. Sie befürchten, eine Anerkennung der Sportsucht als Krankheit brauche Jahrzehnte.