Flutlicht im Stadion Reykjavik

Sexueller Missbrauch Me-Too-Bewegung in Islands Fußball

Stand: 22.09.2021 17:00 Uhr

Massive Vorwürfe gegen Nationalspieler wegen sexueller Belästigung und Gewalt gegen Frauen erschüttern Island seit Mitte August. Das könnte erst der Anfang gewesen sein. Offenbar gibt es weitere Betroffene. Jetzt hat der Verband die nächsten Schritte angekündigt.

Der isländische Fußballverband (KSI) signalisiert Transparenz: Am Dienstagabend (21.09.2021) veröffentlichte der Verband die Protokolle der Sitzungen, die nach den Vorwürfen gegen Nationalspieler zum Rücktritt des gesamten Vorstands geführt hatten.

Fünf Zusammenkünfte hatten die Fußballfunktionäre zwischen dem 26. August und dem 9. September. Vier davon hatte Generalsekretärin Klara Bjartmarz noch geleitet. Bei der fünften war auch sie nicht mehr im Amt, beurlaubt. Insider vermuten, sie sei Teil des Problems gewesen.

"Furchtbare Pandemie von Gewalt gegen Frauen"

Jetzt ist Bjartmarz allerdings wieder zurück auf ihrem Posten. Laut Verband soll sie die außerordentliche Mitgliederversammlung am 2. Oktober vorbereiten. Nach dem Rücktritt der kompletten Führungsetage geht es um die Zukunft des Verbandes. Die soll auch weiblicher werden - angestoßen wohl auch durch die gesellschaftliche Debatte im Land, nach den Missbrauchsvorwürfen gegen Nationalspieler.

"Wir belegen die vordersten Ränge, wenn es um Gleichberechtigung geht", sagt Hanna Björg Vilhjálmsdóttir, Lehrerin und Expertin für Gleichstellungsfragen zur generellen Wahrnehmung der isländischen Gesellschaft. "Aber unterschwellig haben wir diese furchtbare Pandemie von Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft, und wir verschweigen das. Deshalb war es für viele ein Schock zu hören, wie die Fußballnationalspieler Frauen behandelt haben. Die werden wie Helden verehrt, sind Vorbilder und, wenn die mit Frauen so umgehen, sagt das viel aus über die Situation in unserer Gesellschaft."

Ein Instagram-Post steht am Anfang

Die Soziologin hat den Missbrauchsskandal im isländischen Fußball öffentlich bekannt gemacht. Vor einigen Wochen, berichtet sie im Interview mit sportschau.de, sei sie auf einen Instagram-Post einer jungen Frau aufmerksam geworden. Die habe von massiven sexuellen Übergriffen durch zwei Männer vor elf Jahren berichtet. Vilhjálmsdóttir fand schnell heraus: Bei den Beschuldigten handelt es sich um bekannte Fußballer.

Sie nahm Kontakt zu der jungen Frau auf. Mit deren Einverständnis schrieb Vilhjálmsdóttir einen Artikel für das Magazin "Vizir" und brachte so Mitte August eine Welle ins Rollen, die viel größer war, als sie dachte. "Ich bekam viele E-Mails, Menschen dankten mir dafür, dass endlich jemand das Thema an die Öffentlichkeit gebracht hat. Mütter erzählten mir von ehemaligen Spielern, die ihre Töchter vergewaltigt hatten. Ich wusste, es ist schlimm, aber es war schlimmer als ich dachte."

Fragen von sportschau.de hat der isländische Fußballverband nicht beantwortet. In einer Pressemitteilung und in Interviews hieß es zunächst: "KSI versucht nicht, Fälle sexualisierter Gewalt oder Taten zu vertuschen oder jemanden zum Schweigen zu bringen. Alle diesbezüglichen Vorwürfe werden entschieden zurückgewiesen."

Zweite Welle der MeToo-Bewegung

Eine Lüge, wie sich herausstellte: Eine weitere betroffene Frau ging an die Öffentlichkeit, erklärte in einem Fernsehinterview, sie habe 2017 sexuelle Übergriffe durch einen Fußball-Nationalspieler erfahren und Anzeige erstattet. Der Verband habe ihr Schweigegeld geboten. Die Betroffene legte Beweise vor, die Darstellung des Fußballverbandes war widerlegt.

"Da ist die Sache explodiert", sagt eine Beobachterin in Bezug auf die Folgen: Der komplette Vorstand des isländischen Fußballverbandes trat zurück und nach einigem Zögern wurde auch die Generalsekretärin beurlaubt. In der Fußballwelt hat es das noch nie gegeben. In Island sprechen sie inzwischen von der zweiten Welle der MeToo-Bewegung.

Erste Erschütterung 2018

Die erste im isländischen Sport begann im Januar 2018: Fast 500 Frauen unterschrieben eine Erklärung, für gleiche Rechte und gleiche Bezahlung wie ihre männlichen Kollegen und gegen männlich dominierte Strukturen im Sport. Und sie berichteten von sexueller Belästigung und Vergewaltigung, die sie im Sport erfahren haben.

62 ihrer Geschichten wurden anonymisiert veröffentlicht. Das sportbegeisterte Island war aufgerüttelt. Gleich am nächsten Tag traten die Initiatorinnen im Fernsehen auf, die Sportministerin schaltete sich ein, sicherte Unterstützung zu.

Birta Björnsdottir ist eine der fast 500 Frauen aus dem Sport, die vor dreieinhalb Jahren die Petition unterzeichnet haben. Heute ist sie Projektmanagerin für das Thema "Gewalt im Sport" bei der Stadt Reykjavik. Eine Stelle, die als Folge der MeToo-Debatte im isländischen Sport geschaffen wurde.

40 Fälle im Sport in diesem Jahr

"Wenn sich Betroffene bei uns melden, unterstützen wir sie zum Beispiel mit Zugang zu kostenloser, psychologischer und therapeutischer Hilfe oder zu Anwälten", beschreibt die ehemalige Volleyballnationalspielerin einen Teil ihrer Aufgaben. Seien es allein in Reykjavik vor zwei Jahren vier Fälle sexualisierter Gewalt im Sport gewesen, die sie bearbeitet habe, seien es in diesem Jahr schon 40, so Birta Björnsdottir.

Sie sieht sich dadurch in ihrer Arbeit bestätigt: "Das zeigt doch, dass wir etwas erreichen, indem wir Richtlinien entwickeln. Wir wissen, es gibt sexuelle Belästigung und Gewalt, aber bisher ist sie zu wenig ans Licht gekommen. Ich bin nicht glücklich über die 40 Fälle, aber ich bin glücklich, dass die Betroffenen gekommen sind und wir ihnen helfen können."

Sich der eigenen Missbrauchserfahrung zu stellen, davor schrecken auch in Deutschland viele Betroffene zurück. Unter anderem sind psychische Belastung, Retraumatisierung die Gründe. Das bestätigt auch Hanna Björg Vilhjálmsdóttir nach ihren Kontakten zu Betroffenen im Fußball.

"Nur die Spitze des Eisbergs"

Fast zwanzig hätten sich bei ihr gemeldet, die Zahl der Beschuldigten: sieben oder acht. "Ich weiß, das ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn die meisten Betroffenen leiden und haben Angst, dass sie angegriffen werden, wenn sie etwas sagen."

Vilhjálmsdóttir nennt das Beispiel einer der Betroffenen, die an die Öffentlichkeit gegangen ist. Sie werde beleidigt und diskreditiert: "Das soll verhindern, dass weitere Frauen an die Öffentlichkeit gehen. Die Nachricht ist: Guck, das wird dir auch passieren, wenn du etwas sagst," glaubt sie, will aber nicht ausschließen, dass sich weitere Frauen nach vorne trauen, um von sexuellen Übergriffen durch isländische Fußballnationalspieler zu berichten. Dann würden sie juristische Unterstützung bekommen.

Der isländische Fußball sei finanzstark genug, um wichtige Änderungen in die Wege zu leiten, ist Birta Björnsdottir überzeugt: "Ich sage immer, du kannst die Fälle nicht innerhalb des Vereins bearbeiten, da muss Hilfe von außen kommen, zum Beispiel Psychologen. Und dafür musst du Geld in die Hand nehmen. Das funktioniert, wenn man genug Geld hat, diese Stellen zu bezahlen. Nichts verschweigen, aufklären und Betroffene unterstützen. Das sagen wir schon die ganze Zeit, aber jetzt sind sie gezwungen, etwas zu tun."

Wahl am 2. Oktober

Unter anderem hat der Fußballverband jetzt angekündigt, eine Gruppe von Expertinnen und Experten zusammenzustellen, die den KSI zum Thema sexualisierte Gewalt beraten. Auch Hanna Björg Vilhjálmsdóttir ist zur Mitarbeit in dieser Gruppe eingeladen worden, erzählt sie. Es habe bereits zwei Treffen gegeben.

Am 25. September läuft die Nominierungsfrist für die Vorstandswahlen des isländischen Fußballverbandes ab. Eine ehemalige Fußballerin kandidiert offenbar für das Amt der Verbandspräsidentin. Von der Wahl am 2. Oktober wird abhängen, ob und was sich im isländischen Fußballverband tatsächlich ändert.