BVB-Profis droht die Bank England vor EM-Start - die Luxusprobleme des Gareth Southgate

Stand: 12.06.2021 20:55 Uhr

Wegen der großen Auswahl in der Offensive gehört England zu den EM-Favoriten. Doch die Defensive ist anfällig. Trainer Gareth Southgate muss die richtige Balance finden.

Von Hendrik Buchheister (London)

Eine mögliche Debatte um den Trainer versucht der englische Verband schon vor dem EM-Auftakt am Sonntag gegen Kroatien im Londoner Wembley-Stadion zu zerstreuen. Die FA trug verschiedenen Medien auf der Insel zu, dass der Job von Gareth Southgate sicher ist, auch im Falle eines frühen Scheiterns. Der einstige Nationalverteidiger, beim EM-Aus der Engländer 1996 gegen Deutschland im Halbfinale bekanntlich mit dem entscheidenden Fehlversuch im Elfmeterschießen, soll die Geschicke der "Three Lions" mindestens bis nach der WM im kommenden Jahr verantworten.

2018 überraschend im WM-Halbfinale

Southgate, 50, hat sich dieses Vertrauen unter anderem durch die gute WM vor drei Jahren erworben, als England überraschend ins Halbfinale kam. Wirklich geglänzt hat die Mannschaft in Russland allerdings nicht. Das Vorrücken unter die letzten vier Teams wurde begünstigt durch machbare Gegner und starke Standardsituationen. Southgate weiß, dass die EM, die für England ein Heimturnier werden könnte mit bis zu sechs Spielen in Wembley, eine Weiterentwicklung im Vergleich zur WM bringen muss – spielerisch und idealerweise auch beim Ergebnis.

England gehört zu den Favoriten. Alles andere als der Einzug ins Endspiel dürfte in der Heimat als Enttäuschung gewertet werden, auch wenn der Mannschaft im Falle des Gruppensiegs schon im Achtelfinale ein Duell mit Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal oder dem traditionellen Angstgegner Deutschland droht. Grund für die hohen Erwartungen ist ausnahmsweise nicht die kuriose Annahme der Engländer, als Erfinder des Spiels ein Anrecht auf Titel zu haben – eine Haltung, die bekanntlich seit dem WM-Sieg 1966 zuverlässig enttäuscht wurde. Der Optimismus um die "Three Lions" speist sich aus dem nominell besten Kader seit Jahren, der vor allem in der Offensive einen Überfluss an fußballerischer Begabung bietet.

Harry Kane ist im Angriff gesetzt

Es wurde im Vorlauf auf die EM viel spekuliert, mit welcher Grundordnung die Engländer antreten, doch es zeichnet sich ab, dass Southgate mit einem 4-2-3-1/4-3-3 operieren wird. Als Sturmspitze gesetzt ist Harry Kane, Kapitän und Führungsfigur, gerade zum dritten Mal in seiner Karriere mit dem "Golden Boot" für den besten Torschützen der Premier League ausgezeichnet. Ein gutes Turnier des Stürmers von Tottenham Hotspur, der offen um einen Wechsel zu einem erfolgreicheren Klub wirbt, ist die Voraussetzung für ein gutes Abschneiden der Engländer.

Bei den Plätzen neben/hinter Kane hat Southgate ein Puzzle zu lösen, um das ihn viele Trainer beneiden dürften. Er hat mehr hoch veranlagte junge Spieler zur Auswahl als er aufbieten kann. Viele Fans und Experten wünschen sich hinter Kane eine Dreierreihe aus Phil Foden (Manchester City), Mason Mount (FC Chelsea) und Jack Grealish (Aston Villa). Sie alle bestechen durch ihre Spielmacher-Qualitäten, ihre Technik und ihre Unberechenbarkeit. Passend dazu hat sich der 21 Jahre junge Foden die Haare silberblond färben lassen – nach dem Vorbild von Paul Gascoigne, der überragenden Erscheinung der Engländer bei der Heim-EM 1996.

Sterling, Rashford oder doch Sancho?

Southgate ist allerdings niemand, der seinen Job darin sieht, die Fußball-Romantiker zu befriedigen. Anstatt des Spielmacher-Trios dürfte er einen pragmatischen Ansatz wählen und (mindestens) einen Flügelspieler aufstellen, der Tempo bietet und die Räume hinter der gegnerischen Abwehr nutzen kann. Die wahrscheinlichste Option ist Raheem Sterling von Manchester City, trotz dessen mäßiger Saison. Alternativen auf den Außen sind Marcus Rashford von Manchester United und Jadon Sancho von Borussia Dortmund.

Der Luxus in der Offensive ist auch ein Problem für Southgate: Für welche Kombination er sich entscheidet – im Falle des Misserfolgs wird ihm vorgehalten werden, dass es die falsche war. Und: Der Trainer braucht die passende Mischung aus offensiver Spielfreude und defensiver Stabilität. Sein Assistent Steve Holland hat vor dem Auftakt gegen Kroatien daran erinnert, dass es im Profisport anders zugeht als beim Online-Managerspiel: "Das ist nicht Fantasy Football. Man kann nicht einfach vier oder fünf Angreifer zusammenwerfen. Wir müssen die richtige Balance finden." Die ist um so wichtiger, weil die Engländer bei aller Wucht im Angriff Schwächen in der Defensive haben.

Maguire und Henderson fehlen zum Auftakt

Gleich zwei Schlüsselspieler aus diesem Sektor sind nach Verletzungen nicht richtig fit und dürften erst in den weiteren Vorrundenspielen gegen Schottland und Tschechien in die Mannschaft rücken, nämlich Abwehrchef Harry Maguire (Manchester United) und Mittelfeld-Organisator Jordan Henderson (FC Liverpool). Um die anfällige Abwehr zu schützen, setzt der traditionell vorsichtige Southgate voraussichtlich auf eine Doppelsechs, in England "double pivot" genannt. Um den Platz neben dem gesetzten Declan Rice (West Ham United) streiten sich Kalvin Phillips von Leeds United und der Dortmunder Jude Bellingham.

Offensichtliche Schwachstelle der Engländer ist die Innenverteidigung, vor allem in Maguires Abwesenheit. John Stones ist in der abgelaufenen Saison wiedererstarkt, allerdings wird das vor allem auf seinen überragenden Nebenmann bei Manchester City zurückgeführt, den Portugiesen Rúben Dias. Die weiteren Innenverteidiger sind entweder fehleranfällig (Tyrone Mings von Aston Villa), in einer Vierer-Abwehr nicht ideal aufgehoben (Conor Coady von den Wolverhampton Wanderers) oder unerfahren (Ben White von Brighton & Hove Albion). Viele Beobachter deuteten Whites Nachnominierung für den verletzten Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold vom FC Liverpool als Eigeständnis von Southgate, dass die Abwehrmitte im ursprünglichen Aufgebot zu schwach besetzt war, beziehungsweise: es immer noch ist.

Pickford erneut im Tor

Das Tor der Engländer hütet wie bei der WM vor drei Jahren Jordan Pickford vom FC Everton. Dieser hat sich seit seinen Heldentaten in Russland eher rückwärts entwickelt. Seine erratische Natur illustrierte in der vergangenen Saison am besten das Foul, mit dem er Liverpools Abwehrchef Virgil van Dijk einen Kreuzbandriss zufügte.

Und so gehen die "Three Lions" mit gemischten Gefühlen in das Turnier. Einerseits ist da die Gewissheit, über eine potenzielle Europameister-Offensive zu verfügen, anderseits die latente Ahnung, dass die Defensive anfällig ist. Southgate tut gut daran, bei der Zielsetzung für die EM im Ungefähren zu bleiben. Auch wenn sein Job sicher ist – er weiß, dass im Falle eines Misserfolges unbequeme Fragen auf ihn zukommen. Oder, wie er selbst sagt: "Es liegt nicht an mir, wenn wir Erfolg haben. Aber es liegt an mir, wenn wir scheitern. Das ist der Job."