EM-Viertelfinale gegen die Ukraine Englands Luke Shaw: Das Comeback des Sündenbocks

Stand: 02.07.2021 21:35 Uhr

Luke Shaw war teuerster Teenager des Fußballs, hätte fast ein Bein verloren und wäre nicht bei der EM, wenn sie vor einem Jahr gespielt worden wäre. Als geheimer Held hat er großen Anteil am Viertelfinal-Einzug der Engländer - und beweist es einem prominenten Kritiker.

Von Hendrik Buchheister (Manchester)

In einem Moment hat Luke Shaw dann doch den Zugriff verloren im EM-Achtelfinale gegen Deutschland. Raheem Sterling hatte gerade das 1:0 für England erzielt, nach einer flachen Hereingabe von Shaw, dem Linksverteidiger von Manchester United, und lief jubelnd Richtung Eckfahne. Die Mitspieler folgten Sterling, sie versuchten, ihn zu packen, allerdings ohne Erfolg. "Ich wollte ihn greifen. Aber er hat uns alle stehen gelassen. Er wollte nicht, dass ihn jemand anfasst", hat Shaw gerade lachend berichtet.

Vorlage war, "als hätte ich selbst getroffen"

Auch er selbst hätte sich übrigens wie ein Torschütze gefühlt in dem Moment. Den Treffer vorzubereiten, der den Durchbruch bedeutete, in einem so großen Spiel, gegen den alten Angstgegner Deutschland – "das war, als hätte ich selbst getroffen", sagte Shaw.

Beim zweiten Tor gegen Deutschland hatte er ebenfalls seine Füße im Spiel. An der Mittellinie gewann Shaw gegen Serge Gnabry den Ball, trieb ihn durch die Mitte nach vorne und passte zu Jack Grealish auf die linke Seite. Dessen Flanke verwertete Harry Kane zum 2:0-Endstand, der den Einzug ins Viertelfinale gegen die Ukraine an diesem Samstag (03.07.2021) in Rom garantierte.

Shaw nach schwerer Verletzung von Selbstzweifeln geplagt

Englands EM-Kampagne hat viele geheime Helden – den überraschend souveränen Torwart Jordan Pickford zum Beispiel, die Mittelfeld-Abräumer Declan Rice und Kalvin Phillips oder eben Shaw. Man vergisst leicht, dass er erst 25 Jahre alt ist. Beziehungsweise 25 Jahre jung. Er wirkt reifer mit seiner kräftigen Statur und den kurz geschorenen Haaren, ist schon lange dabei und hat mehr erlebt als viele Profis in ihrer gesamten Laufbahn, nicht nur Gutes.

2014 wurde Shaw zum teuersten Teenager im Weltfußball mit seinem Wechsel vom FC Southampton zu Manchester United für fast 40 Millionen Euro. Nur drei Abwehrspieler hatten zuvor mehr Ablöse gekostet: David Luiz, Thiago Silva und Rio Ferdinand. Im September 2015 erlitt Shaw in einem Champions-League-Spiel bei der PSV Eindhoven einen doppelten Bruch des rechten Schienbeins. Viermal musste er operiert werden, hätte fast sein Bein verloren, wie ihm die Ärzte später berichteten. Elf Monate setzte Shaw aus. Es waren elf Monate, die von Selbstzweifeln begleitet waren.

Schwierigkeiten mit Mourinho

Er kam wieder, eroberte seinen Stammplatz zurück, hatte aber Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten. José Mourinho kritisierte Shaw in seiner Zeit bei Manchester United mehrmals öffentlich so scharf, dass viele Beobachter an eine gezielte Kampagne glaubten, um Shaw zum Sündenbock für die trüben Ergebnisse unter Mourinho zu machen. Der Trainer soll Shaw angeblich nachgetragen haben, dass sich dieser 2014 für Manchester United entschieden hatte, gegen den damals von Mourinho betreutenFC Chelsea.

Nachdem sich Mourinho gerade wieder einmal abfällig über Shaw geäußert hatte ("dramatisch schlecht" seien dessen Ecken), konterte der Linksverteidiger. Er nutzte ein Pressegespräch, um ausgiebig gegen den Trainer zurückzuschießen. "Ich versuche, nach vorne zu schauen. Aber er kann das offensichtlich nicht. Er redet ständig über mich, was ich seltsam finde. Selbst einige meiner Mitspieler fragen: Was ist sein Problem? Warum macht er immer weiter?", sagte Shaw.

Mit seiner guten EM, vor allem seiner Leistung gegen Deutschland, revanchiert er sich bei seinem prominenten Kritiker. Oder, wie es der "Daily Mirror" nach dem Achtelfinale formulierte: "Shaw bringt Mourinho im Krieg der Worte zum Schweigen!"

Shaw oder Mourinho? "Beide Seiten haben Recht"

Es gibt durchaus differenzierte Sichtweisen auf den Konfliktzwischen Shaw und seinem Ex-Trainer. "Beide Seiten haben Recht", sagte gerade Henry Winter, Star-Schreiber der "Times" und eine mächtige Stimme im England-Kosmos, im Fußball-Podcast seiner Zeitung: "Luke Shaw ist kein Spieler, der darauf anspringt, wenn man ihn anschreit. Man muss den Arm um ihn legen. Aber es war richtig, ihn bei Manchester United zu fordern. Und seine Ecken sind wirklich nicht gut." Diese schoss Shaw zuletzt für England nur aushilfsweise, weil Mason Mount und Phil Foden fehlten. Abgesehen von dieser Schwäche zeigt er seit einer Weile den wohl besten Fußball seiner Laufbahn.

Shaw unter Solskjaer stärker geworden

Bei Manchester United profitiert er davon, dass der aktuelleTrainer Ole Gunnar Solskjaer mit seiner emphatischen Menschenführung des Gegenteil des autoritären Mourinho ist. Auch die interne Konkurrenz durch die Verpflichtung von Alex Telles vom FC Porto hat Shaw stärker gemacht. Außerdem, so hat es Solskjaer beobachtet, sei Shaw gereift, seitdem er im November 2019 zum ersten Mal Vater wurde.

In der abgelaufenen Saison verbuchte er mehr Spiele (47 in allen Wettbewerben) und mehr Torbeteiligungen (sieben) als je zuvor. Wegen seines kompakten Körperbaus begleitet Shaw das Klischee, er sei unbeweglich und tendiere zur Faulheit, doch dagegen spielt er erfolgreich an. Shaw ist ein schneller, hart arbeitender Linksverteidiger, hinten solide und vorne gefährlich, wie gegen Deutschland zu sehen war.

Shaw "lebt den Traum"

Hätte die EM wie ursprünglich geplant vor einem Jahr stattgefunden, wäre Shaw nicht dabei gewesen. Erst im März gab er wegen seiner starken Leistungen im Verein sein Comeback bei der Nationalmannschaft, nach zweieinhalb Jahren Abwesenheit. "Er ist explodiert, hat sein Spiel auf ein neues Level gehoben und machte es für Trainer Gareth Southgate unmöglich, ihn zu ignorieren", schrieb der "Guardian" seinerzeit.

Matt Crocker, einstiger Nachwuchschef von Shaws Ex-Klub Southampton, sagte gerade dem "Telegraph": "Luke ist ein Vorbild für junge Spieler. Er hat große Widerstandsfähigkeit gezeigt. Er lebt den Traum." Dieser Traum soll noch ein bisschen weitergehen bei der EM, bis zum Endspiel im Wembley-Stadion – einen Tag vor Shaws Geburtstag.