Makellose Abwehr bei der EM Bewährungsprobe für Englands neues Prunkstück

Stand: 28.06.2021 08:19 Uhr

Zur allgemeinen Überraschung ist die Abwehr Englands Stärke bei der EM. Dabei wurde vor dem Turnier noch genau über diese debattiert. Vor dem Achtelfinale gegen Deutschland ist Erstaunliches zu beobachten.

Von Hendrik Buchheister (London)

Dreierkette? Viererkette? Fünferkette? Wer ersetzt Harry Maguire? Ist eine Innenverteidigung mit John Stones und Tyrone Mings das kleinste Risiko? Oder richten Stones und Ben White den geringsten Schaden an?

Es ist schon erstaunlich, wie grundsätzlich die englische Öffentlichkeit vor der EM über die Abwehr der heimischen Nationalmannschaft debattiert hat, und das nicht ein paar Wochen vor dem Turnier – sondern bis zum ersten Anpfiff gegen Kroatien. Sicher war nur, dass die Defensive die große Schwachstelle ist in der Auswahl von Trainer Gareth Southgate, der in seiner aktiven Zeit selbst Verteidiger war.

Die Debatten auf der Insel haben sich verschoben

Vor dem Achtelfinale an diesem Dienstag gegen Deutschland ist Erstaunliches zu beobachten bei den Engländern. Die Debatten haben sich verschoben. Thema sind die Torflaute von Harry Kane und die ideale Besetzung für das offensive Mittelfeld. Über die Defensive wird nicht mehr diskutiert. Weil es nichts zu diskutieren gibt.

England ist ohne Gegentor durch die Vorrunde gekommen, zum ersten Mal seit der WM 1966, die bekanntlich mit dem Titel endete. Davon ist die Mannschaft bei der EM zwar noch weit entfernt. Aber fest steht, dass die Defensive zur allgemeinen Überraschung stärkster Mannschaftsteil ist. Nur insgesamt drei Schüsse ließ England gegen Kroatien (1:0), Schottland (0:0) und Tschechien (1:0) zu.

Pickford half, ein nationales Trauma zu überwinden

Sie wurden allesamt pariert von Torwart Jordan Pickford. Er half vor drei Jahren, bei der WM in Russland, ein nationales Trauma zu überwinden, als er im Achtelfinale gegen Kolumbien den Elfmeter von Carlos Bacca hielt. Zum ersten Mal seit 1996 gewann England mal wieder ein Elfmeterschießen. Pickfords Heldentat vermag es aber nicht, seine Leistungen seitdem beim FC Everton zu überstrahlen.

Die sind gemischt. “Erratic” ist ein Wort, mit dem der Torwart oft beschrieben wird – launig, unberechenbar, fahrig. In der abgelaufenen Saison foulte er Liverpools Abwehrchef Virgil Van Dijk so schwer, dass dieser einen Kreuzbandriss erlitt. Wäre Pickfords Herausforderer Nick Pope vom FC Burnley nicht mit Knieproblemen für die EM unpässlich, hätte er wohl um seinen Platz als Nummer eins kämpfen müssen. So ist er gesetzt, und wie meistens in der Nationalmannschaft gibt es nichts zu beanstanden an seinen Leistungen.

Gestandenes Innenverteidiger-Duo

Zentral vor Pickford spielt das Innenverteidiger-Duo John Stones und Harry Maguire, das bei der abschließenden Partie in der Vorrunde gegen Tschechien zu ersten Mal bei der EM gemeinsam zum Einsatz kam. Maguire ist gerade erst von einer sechswöchigen Verletzungspause zurück. Bei der WM in Russland war “Slab Head”, Quadratschädel, wie Maguire genannt wird, noch Neuling im Team, mittlerweile ist er teuerster Abwehrspieler der Welt, Kapitän von Manchester United – und skandalerprobt, seitdem er im vergangenen Sommer im Urlaub auf Mykonos wegen Körperverletzung und versuchter Bestechung von Polizisten verurteilt wurde.

Trainer Southgate hat gerade noch einmal erklärt, wie sehr Maguire gereift sei seit seinem Wechsel zu Manchester United von Leicester City für fast 90 Millionen Euro. Er ist froh, seinen Abwehrchef rechtzeitig zur K.o.-Phase wieder zur Verfügung zu haben.

Maguire muss auch ein bisschen Rúben Dias sein. Der Portugiese hatte in der vergangenen Saison großen Anteil daran, dass John Stones zurück zu jener Klasse gefunden hat, die Manchester City einst mehr als 55 Millionen Euro wert war. Stones hat seine Karriere wiederbelebt, war im März zum ersten Mal seit einem Jahr wieder für die Nationalmannschaft nominiert und führte bei den ersten beiden EM-Spielen in Maguires Abwesenheit souverän die englische Defensive.

Bemerkenswerte Auswahl auf den Außenbahnen

Auf den Außenverteidiger-Positionen verfügt England über eine bemerkenswerte Auswahl, auch ohne Ben Chilwell, der sich bis Dienstag nach einem Verstoß gegen die Corona-Regeln isolieren muss. Bis zur Verletzung von Trent Alexander-Arnold in der Turniervorbereitung hatte Southgate sogar vier (!) Rechtsverteidiger im Kader.

Die anderen sind Kyle Walker, Reece James und Kieran Trippier. Trippier fliegt in England immer ein bisschen unter dem Radar, weil er bei Atlético Madrid spielt, genießt bei Southgate aber höchstes Vertrauen und ist neben Bobby Charlton (1966) und Gary Lineker (1990) der einzige Engländer mit einem Tor in einem WM-Halbfinale. Sein Freistoß vor drei Jahren gegen Kroatien (1:2) reichte nicht zum Einzug ins Endspiel.

Shaw blüht seit Mourinhos Abgang auf

Seinen einzigen Einsatz bei der EM hat Trippier auf der linken Seiten absolviert, gegen Deutschland dürfte dort aber Luke Shaw von Manchester United operieren. Wie sein Innenverteidiger-Kollege John Stones ist auch Shaw eine Wiederauferstehung gelungen, die ihm die Rückkehr in die Nationalmannschaft nach zweieinhalb Jahren Abwesenheit eingebracht hatte. Dabei geholfen hat ihm, dass er nicht mehr unter José Mourinho arbeitet.

Dieser kritisierte Shaw öffentlich mehrmals so scharf, dass eine Kampagne der Trainers unterstellt werden musste. Nachdem Mourinho gerade in seiner Funktion als TV-Fachmann wieder Shaws Leistungen anzweifelte, schlug dieser zurück: “Ich versuche, nach vorne zu schauen, aber er kann das offensichtlich nicht.”

Der erste echte Test für Englands Abwehr

Nach vorne schauen also, auf England gegen Deutschland. Es dürfte der erste echte Test für Englands Abwehr bei der EM werden, und trotz der stabilen Leistungen in der Vorrunde gibt es den einen oder anderen Grund zu der Annahme, dass die Hintermannschaft gegen stärkere Gegner ins Schleudern geraten könnte.

Maguire dürfte nach seiner Verletzung noch Eingewöhnungszeit brauchen. Stones muss nachweisen, dass er auch gegen hochklassige Mannschaften ohne Rúben Dias auskommt. Torwart Pickford wird ohnehin immer mit einer gewissen Nervosität beobachtet. Oder, zusammengefasst: Es hatte schon seine Gründe, dass vor der EM über Englands Abwehr diskutiert wurde. Gegen Deutschland kann die bisher makellose Defensive zeigen, dass der hysterische Ton der Debatte überflüssig war.