Deutscher Fußball | Nachwuchsproblem U21 - vom Aushängeschild zum Sorgenkind

Stand: 24.03.2022 08:18 Uhr

Nicht nur Verletzungen und Coronafälle machen der deutschen U21 gerade zu schaffen. Nationaltrainer Antonio di Salvo sorgt sich vor allem wegen der fehlenden Spielzeit für den Nachwuchs.

Die Annehmlichkeiten des Hotels Bilderberg Kasteel Vaalsbroek in Vaals haben schon andere Auswahlmannschaften des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) zu schätzen gelernt. Auch die U21-Nationalmannschaft bereitet sich in der Herberge an der deutsch-niederländischen Grenze auf das EM-Qualifikationsspiel gegen Lettland (Freitag 18.15 Uhr) am Aachener Tivoli vor. Allerdings sind die Bedingungen alles andere als angenehm.

Noch nie hat Nationaltrainer Antonio di Salvo so viel telefonieren müssen, um überhaupt seinen Kader zu versammeln. Mitunter musste sich der 42-Jährige wie ein Angestellter einer Hotline fühlen, so viele Absagen und Ausfälle trudelten ein. Verletzungen und Coronafälle haben das ursprünglich angedachte Aufgebot fast zur Hälfte komplett gesprengt.

Fast minütlich kamen die Absagen rein

"Die letzten Tagen war schon extrem, weil minütlich ein Anruf von einem Spieler oder Verein kam, das was passiert ist", berichtete der Nachfolger von Stefan Kuntz in einer digitalen Medienrunde. Vor allem brechen ihm die wenigen Spieler mit regelmäßigen Bundesliga-Spielzeiten weg.

Armel Bella Kotchap und Patrick Osterhage (beide VfL Bochum) haben sich mit dem Coronavirus infiziert, Jordan Beyer (Borussia Mönchengladbach) musste am Mittwoch aus demselben Grund abreisen, sein Mannschaftskollege Luca Netz sagte wegen einer Muskelblessur ab, Kevin Schade (SC Freiburg) und Angelo Stiller (TSG Hoffenheim) sind angeschlagen. So standen nur 14 Feldspieler und drei Torhüter im Trainingsbetrieb.

Dabei geht es um einiges: Nach der Pflichtaufgabe gegen den lettischen Nachwuchs reist der aktuelle U21-Europameister am Samstag (26.03.2022) nach Tel Aviv zum wegweisenden Auswärtsspiel gegen Israel (Dienstag, 29.03.2022, 17 Uhr).

Einen Systemausfall wie im Herbst beim 0:4 gegen Polen darf sich der deutsche Nachwuchs nicht mehr leisten, sonst droht beim EM-Turnier 2023 in Rumänien und Georgien die Zuschauerrolle. Das bislang letzte Mal passierte so etwas 2011 unter Rainer Adrion. Seit 2015 erreichte eine deutsche U21 immer das Halbfinale, gewann 2017 und 2021 den Titel.

Stefan Kuntz hat das Problem noch kaschieren können

Es ist schon erstaunlich, wie sich diese Auswahl binnen kürzester Zeit vom Aushängeschild zum Sorgenkind entwickelt hat. Der langjährige Kuntz-Assistent Di Salvo kann dafür am allerwenigsten. Der heutige Nationaltrainer der Türkei hatte noch gut kaschieren können, dass immer weniger U21-Akteure angemessene Spielanteile in der Bundesliga bekommen.

Seinem Nachfolger gelingt das nicht mehr, weshalb der DFB-Coach das Problem kurz nach dem Jahreswechsel im "Kicker" öffentlich gemacht hat: "Uns fehlt die Breite an Spielern, die Praxis in der Bundesliga bekommen. Unser Pool an Kandidaten ist viel geringer als zum Beispiel der der Franzosen oder Engländer."

Teilweise seien selbst seine Zweitligaspieler keine Stammkräfte in ihren Klubs. "Das ist eine extrem gefährliche Tendenz."

DFL und DFB haben das Problem auf dem Schirm

Nun ist es nicht so, dass der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und die Deutsche Fußball Liga (DFL) das nicht erkannt haben. Die zuständigen Stellen seien im ständigen Austausch, wie Andreas Nagel, der DFL-Direktor Sport & Nachwuchs versichert.

Meikel Schönweitz, DFB-Cheftrainer U-Nationalmannschaften, spricht von einer "extrem komplexen Thematik", deren Bedeutung für den deutschen Fußball noch zunehmen werde: "Wir sehen nämlich, dass wir in den einzelnen Jahrgängen nicht mehr zehn, zwölf, sondern oft nur noch eine Handvoll Toptalente haben."

Insgesamt müsse sich der deutsche Fußball bewegen, um vorwärts zu kommen - das Verharren in alten Denkmustern und überholten Wettbewerbsformaten im Jugendbereich helfe da nicht weiter. Seine Erkenntnis aus dem EM-Sieg vergangenen Sommer war: "Wenn man den Jungen Vertrauen schenkt, zahlen sie es zurück."

Die positiven Beispiele sind bei Hansi Flick

Geduld mit den Talenten müsse beidseitig vorhanden sein, "auch der Spieler und sein Umfeld sollten einsehen, dass es mitunter lohnt, einen Schritt zurück zu machen, um wieder vorwärts zu kommen." Positive Beispiele sind David Raum (TSG Hoffenheim), Nico Schlotterbeck (SC Freiburg), Lukas Nmecha (VfL Wolfsburg), Karim Adeyemi (FC Salzburg) und neuerdings auch Anton Stach (1. FSV Mainz 05), die es in den Kader der A-Nationalmannschaft geschafft haben – und unter Hansi Flick teils debütiert haben oder werden.

Doch davon hat die U21 gerade nichts, in deren aktuellem Notkader sieben Spieler ohne jedes U21-Länderspiel stehen. "Es ist ersichtlich, dass im Vergleich zu den anderen großen Nationen, unsere Spieler zu wenig Spielpraxis bekommen auf allerhöchstem Niveau", hat Di Salvo am Montag (21.03.2022) der sportschau wieder gesagt. "Und das ist einfach wichtig, um qualitativ und quantitativ eine gute Mannschaft stellen zu können, nicht nur im Hinblick auf die U21, sondern auch später die A-Nationalmannschaft."

Jonathan Burkardt mit pragmatischer Haltung

Top-Nachwuchs kann nur mit regelmäßigen Einsatzzeiten im Erwachsenenbereich reifen, und da haben es schon junge deutsche Torhüter schwer. Kuntz vertraute beim EM-Triumph auf Finn Dahmen, den Ersatztorhüter des 1. FSV Mainz 05 mit bis heute erst drei Bundesligaeinsätzen.

Di Salvo hatte fürs Tor diesmal Noah Atubolo (SC Freiburg), Nico Mantl (FC Salzburg) und Luca Philipp (TSG Hoffenheim) berufen, ehe sich auch Philipp nach einem Corona-Ausbruch im Heimatverein in häusliche Isolation begeben musste. Für ihn rückte mit Vincent Müller (PSV Eindhoven) ein Torhüter nach, der nur die Nummer drei in seinem Verein ist.

Die Improvisation zieht sich also von ganz hinten bis nach vorne, wobei der U21-Nationaltrainer im Sturm mit Jonathan Burkardt (1. FSV Mainz 05) wenigstens eine kerngesunde Größe begrüßt, die zu einem der besten deutschen Bundesliga-Angreifer gereift ist und wirklich immer spielt.

Dass so einer die U21-Kapitänsbinde trägt, versteht sich fast von selbst. Der 21-Jährige sagt übrigens zu den vielen Personalrochaden dieser Tage recht pragmatisch: "Neue Gesichter bedeuten neue Möglichkeiten."