Fußball | Serie A Milan und Inter: Titel-Duell der ungleichen Mailänder Brüder

Stand: 20.05.2022 06:00 Uhr

Es ist wie in guten alten oder in guten, noch älteren Zeiten. Die Meisterschaft in Italien ist ein Mailänder Stadtderby, ein Duell der ungleichen Brüder AC und Inter Mailand. Wie in den 1980/90er Jahren, als Ruud Gullit und Marco van Basten gegen Lothar Matthäus und Giuseppe Bergomi spielten. Oder, noch glorreicher, in den 1960er Jahren, als mal Gianni Rivera Milan zur Meisterschaft führte, mal Sandro Mazzolo seinen FC Internazionale.

Von Jörg Seisselberg (Rom)

Vor dem letzten Spieltag der Saison ist klar: Nach dem Titelgewinn von Inter im vergangenen Jahr bleibt der Scudetto in Mailand. Der italienische Fußball-Meister in der Serie A wird erneut aus der norditalienischen Finanz- und Modemetropole kommen.

Milan hat es vor dem Showdown am Sonntag (22.05.2022) als Spitzenreiter selbst in der Hand. Dem AC reicht bei zwei Punkten Vorsprung ein Unentschieden bei Sassuolo Calcio, um den 19. Meistertitel zu gewinnen. Inter muss zeitgleich gegen Sampdoria Genua ran.

Zwar hätten die "Nerazzurri" bei Punktgleichheit das bessere Torverhältnis, doch in Italien gilt in der Abschlusstabelle der direkte Vergleich - und den haben die "Rossoneri" für sich entschieden.

Inter nach Pokaltriumph mit Rückenwind

Inter geht allerdings mit breitem Ego auf die letzten Meter der Saison. Das Team triumphierte zuletzt über Juventus Turin im Finale des italienischen Pokals. Nach Rückstand und einer "Achterbahn der Gefühle" ("Gazzetta dello Sport") hieß es am Ende 4:2 nach Verlängerung.

Danach feierte ein vor Selbstbewusstsein strotzender Trainer Simone Inzaghi "eine Mannschaft, die niemals aufgibt" - ein Gruß an den Nachbarn im Meisterschaftsendspurt.

Beide Mailänder Teams gehören traditionell zu den großen Nummern im italienischen Fußball. 3,97 Millionen Menschen in Italien sind laut einer aktuellen Erhebung des Ipsos-Umfrageinstituts Inter-Fans, 3,86 Millionen sind Milan-Anhänger. Auf Platz eins der Fantabelle liegt Juventus Turin mit 8,72 Millionen, auf Platz vier Neapel mit 2,78 Millionen.

AC gegen Inter - ein Duell der Gegensätze

Der aktuelle stadtinterne Titelkampf der beiden Mailänder Teams ist immer auch das Duell zweiter gegensätzlicher Fußballschulen gewesen. Auf der einen Seite das auf dem Rasen feingeistige, elegante Milan.

Bei den "Rotschwarzen" hat Nils Liedholm bereits ab den 1970er Jahren die Raumdeckung eingeführt, hier machte Arrigo Sacchi ab 1987 das Pressing zum Referenzmodell einer neuen Trainergeneration, inspirierte Pep Guardiola, Jürgen Klopp und viele andere.

Inter Mailand steht für niemals Aufgeben - und die Erfindung des Catenaccio. Den ergebnisorientierten Stil von Helenio Herrera in den 1960er Jahren kultivierten zahlreiche Nachfolger, wie Giovanni Trapattoni, José Mourinho oder zuletzt Antonio Conte. Immer ging es hier um starke Defensive, gefährliche Konter, hohen kämpferischen Einsatz und viel Mentalität.

In Simone Inzaghi holte Inter einen der erfolgreichsten italienischen Trainer der vergangenen Jahre von Lazio Rom, vor allem aber kamen Hakan Calhanoglu (vom Ortsrivalen Milan!), Oranje-Star Denzel Dumfries und der immer noch treffsichere Edin Dzeko. Im Winter holte der Meister unter anderem noch den - lange verletzten - deutschen Nationalspieler Robin Gosens dazu.

Das finanzielle Aschenputtel AC Mailand

Auf den AC Mailand als Meister hatten im Sommer dagegen nur Menschen mit Hang zu Außenseitertipps gesetzt. Verträge mit wichtigen Leistungsträgern wie Torwart Gianluigi Donnarumma und dem erwähnten Hakan Calhanoglu waren aus Kostengründen nicht verlängert worden.

Vorbei sind die finanziell opulenten Jahren unter Silvio Berlusconi, der sich seinen Lieblingsverein drei Jahrzehnte lang als Spielzeug und zur Imagepflege hielt. Unter den Topklubs der Serie A ist die AC Mailand mittlerweile das finanzielle Aschenputtel.

Der Spitzenreiter gibt in der aktuellen Saison 175 Millionen Euro für seine Mannschaft aus, rund die Hälfte weniger als das viertplatzierte Juventus Turin (370 Millionen) - und immerhin noch ein Drittel weniger als Lokalrivale Inter (260 Millionen).

Milan-Trainer Pioli - ein entscheidender Faktor

Ein Grund, warum Milan trotz geringen Budgets beste Chancen auf den Titel hat, ist Stefano Pioli, der taktisch variabel und offensivorientiert spielen lässt: Er klagt nicht über fehlende Stars, sondern formt sie.

Milan anno 2022 ist auch eine der jüngsten Mannschaften, die in der Serie A in den vergangenen Jahrzehnten um den Meistertitel gespielt haben. Obwohl der mittlerweile häufig verletzte Altstar Zlatan Ibrahimovic (40 Jahre!) auf der Statistik lastet.

In der Schlussphase der Saison, wo angeblich Erfahrung besonders zählt, sind es die Jungen, die Milan auf Kurs halten. Allen voran die beiden 22 Jahre alten Sandro Tonali und Rafael Leao, Milans neue Erfolgsgaranten.

Außenstürmer Rafael Leao ist mit elf Liga-Treffern erfolgreichster Torschütze beim AC und bietet in vielen Spielen Tricks und Dribblings für die You-Tube-Galerie. Dazu gibt es noch eine stabile Defensive mit Donnarumma-Nachfolger Mike Maignan im Tor und den jungen Innenverteidigern Pierre Kalulu (21) und Fikayo Tomori (24).

Inter setzt auf Erfahrung

Inter Mailand setzt ein erfahrenes Team dagegen, in dem der 33 Jahre alte Ivan Perisic der Mann der Stunde ist. Robin Gosens, Konkurrent mit Perisic um die Position auf der linken Außenbahn, kam seit seinem Wechsel im Januar bislang nur zur Teilzeiteinsätzen.

Im Saisonfinale setzt Inter auf vereinsbekannte Qualität, Spiel- und Saisonverläufe im letzten Augenblick noch zu drehen - und auf den vermeintlich leichteren Spielplan. Inter erwartet Sampdoria daheim, der AC muss auswärts in Sassuolo antreten.