Fußball | Nationalmannschaft Hometraining fürs Nationalteam - Flicks erster Stresstest

Stand: 08.11.2021 20:17 Uhr

Er hat nicht gesagt, dass er im Prinzip den ganzen Laden auseinandernehmen will. Aber Hansi Flick plant etwas Revolutionäres, was auch zum ersten Stresstest mit den Vereinen taugt.

Mitte Juli 2004 gab Jürgen Klinsmann ein denkwürdiges Interview. In der Süddeutschen Zeitung philosophierte der im sonnigen Kalifornien residierende Ex-Nationalstürmer über die traditionell verkrusteten Strukturen im Deutschen Fußball-Bund und kam zu der auch heute noch sehr nachvollziehbaren Schlussfolgerung, dass man "im Prinzip den ganzen Laden auseinandernehmen muss".

Das Land wieder fürs Nationalteam begeistert

Dieses Vorhaben ging er dann wenig später als Bundestrainer selbst an. Den ganzen Laden hat er zwar nicht auseinandernehmen können, aber doch für DFB-Verhältnisse sehr viel verändert, und das in sehr kurzer Zeit. Und sehr erfolgreich: Zwischen 2004 und 2006 gewann er 20 und verlor nur sechs seiner 34 Spiele als Bundestrainer, vor allem aber begeisterte er nach fußballerisch furchtbaren Jahren das Land wieder für die Nationalmannschaft und sorgte mit dem "Sommermärchen" samt WM-Platz drei in Deutschland für kollektiv gute Laune.

Sein Nach-Nachfolger Hansi Flick ist jetzt kein Typ, dem so ein Satz von den Lippen gehen würde, er würde auch den DFB, in dem er mit Unterbrechungen schon sehr lange tätig ist, nie öffentlich als "Laden" bezeichnen. Flick kann zwar auch sehr hart im persönlichen Dialog sein, aber sein Erfolgsgeheimnis besteht neben Fachkenntnis vor allem aus Respekt und Kommunikation.

Überall präsent, sehr kommunikativ

Seit Flick nach der enttäuschenden Europameisterschaft den Job von Klinsmann-Erbe Joachim Löw übernommen hat, loben die Trainer in der Bundesliga vieles an ihm, vor allem aber seine Präsenz: Flick ist überall in der Liga vor Ort, nicht nur in Freiburg, und er redet viel mit den Coaches. Mit Hoffenheim-Coach Sebastian Hoeneß sprach er vor der ersten Nominierung von Linksverteidiger David Raum und mit Mainz-Trainer Bo Svensson über den Stand der Dinge bei Sturm-Hoffnung Jonathan Burkardt. Mit dem Ex-Wolfsburg-Trainer Mark van Bommel referierte er den Formverlauf von Lukas Nmecha, den er nun zu den Länderspielen am 11. November gegen Liechtenstein und drei Tage später in Armenien (beide im Live-Ticker bei sportschau.de) in seinen Kader berufen hat.

Für die Bekanntgabe einer neuen Idee, die es in dieser Form nicht mal bei Jürgen Klinsmann gegeben hat, hat sich Hansi Flick aber nun auch eine renommierte deutsche Tageszeitung gesucht. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt der Bundestrainer, dass er in Zukunft nicht nur während der Zusammenkünfte beim Nationalteam Zugriff auf seine Spieler haben möchte. "Nationalmannschaft ist immer, das ganze Jahr, nicht nur die 14 Tage, die man bei einzelnen Maßnahmen zusammen ist oder während der Turniere", hat Flick im FAZ-Interview gesagt und damit seinen Wunsch begründet, auf die Spieler und vor allem ihre Trainingsinhalte auch dann Einfluss zu nehmen, wenn sie bei ihren Vereinen sind.

Mal online, mal über Gruppencoaching

Flick will die Nationalmannschaft bereit machen für den Angriff auf den WM-Titel 2022 und sagt deshalb: "Uns ist es wichtig, dass die Spieler, auch wenn wir nicht zusammen bei der Nationalmannschaft sind, daran arbeiten, was wir ihnen individuell vorgegeben haben. Etwa am taktischen Verständnis oder am Thema Standardsituationen."

Wie das in der täglichen Arbeit ablaufen soll, hat sich der Bundestrainer auch schon überlegt: "Das läuft auch über Gruppencoaching, mal online, aber auch mal so, dass die Spieler das nach Absprache mit den Vereinstrainern vor Ort in ihren Klubs umsetzen." Quasi als Hometraining, und das passt nach all dem Homeschooling und Homeoffice doch auch prima in die aktuelle Zeit.

Rotation bei den Trainern

Flick verspricht sich von der Maßnahme eine stärkere Professionalisierung. "Es ist elementar, dass wir für die wichtigste Mannschaft des Landes in allen Details und Bereichen optimale Voraussetzungen schaffen", sagte er: "Von Bayern München kenne ich das nicht anders." 

Der Bundestrainer will dabei sein Team in die drei Gruppen Abwehr, Zentrum und Sturm einteilen und sie mit seinen Assistenten Marcus Sorg und Danny Röhl begleiten. "Wir werden rotieren, sodass jeder von uns mal mit jedem Spieler gearbeitet hat", betonte der Bundestrainer. Es könne auch vorkommen, dass der neue Standard-Coach Mads Buttgereit "dem einen oder anderen ein paar Hausaufgaben gibt".

Was sagen Guardiola, Tuchel und Nagelsmann?

Was die 18 Bundesliga-Trainer oder auch Thomas Tuchel beim FC Chelsea oder Pep Guardiola bei Manchester City davon halten, wenn die Spieler demnächst mit ihrem Hausaufgabenheft vor ihnen stehen und um Nachhilfe bitten, wird spannend zu beobachten sein.

Doch geschickt, wie der Kommunikator Flick ist, kommt er seinen Kollegen auch entgegen. In der Bundesliga-Pause vom 24. Januar bis 3. Februar verzichtet er auf einen angedachten Lehrgang mit seinen WM-Kandidaten. "Für viele Spieler, die international spielen, war die Belastung sehr hoch. Deswegen glaube ich auch, dass dem einen oder anderen, weil die Winterpause auch nicht allzulang ist, ein Durchatmen ganz gut tut", sagte Flick. Das wird die Vereinstrainer freuen - und vielleicht empfänglicher machen für die revolutionäre Idee aus dem Zeitungsinterview.