Interview mit Erzieher Oliver Otto vom VfB Stuttgart VfB-Erzieher: "NLZ-Internat kann Elternhaus nie gleichwertig ersetzen"

Stand: 12.10.2021 11:43 Uhr

Kann Heimweh die Karriere eines angehenden Profifußballers ausbremsen? Oliver Otto, Erzieher beim VfB Stuttgart, gibt Einblicke in den Alltag eines Nachwuchsleistungszentrums.

Ex-Fußballprofi Oliver Otto (Stationen bei VfB Stuttgart, SSV Ulm 1846, Akratitos Ano Liosia, Waldhof Mannheim, Borussia Fulda und SSV Reutlingen 05) arbeitet beim VfB Stuttgart als Senior Manager Bildung und Erziehung. 

Herr Otto, "Heimweh" - das hört sich für angehende Profisportler im ersten Impuls nach einem höchst banalen Thema an. Kennen Sie das Problem im Nachwuchsleistungszentrum des VfB Stuttgart überhaupt?

Oliver Otto: Natürlich ist Heimweh bei uns auch ein Thema. Je jünger die Spieler sind, desto eher haben sie damit zu tun. Bei uns kommen die Spieler frühestens mit 14, also zur U15, ins Internat. Ein 14-Jähriger hat eher mit Heimweh zu kämpfen als ein 17-Jähriger, der in der Persönlichkeitsentwicklung schon ein Stück weiter ist. Aber auch bei den Älteren kommt es vor.

Haben alle Nachwuchsspieler mal mit Heimweh zu kämpfen?

Otto: Nein, das ist individuell völlig unterschiedlich. Es gibt Spieler, die haben das gar nicht, bei anderen ist das nach einer Woche im Internat weg, andere haben drei Monate lang Bauchweh, weil sie ihre gewohnte Umgebung vermissen. Insgesamt ist das ein sehr komplexes Thema, es gibt ja verschiedenste Einflüsse auf die Psyche der Jungs. Die Spieler müssen sich an die neue Umgebung, an neue Alltags-Abläufe und neue Bezugspersonen gewöhnen. Es kann auch passieren, dass Heimweh aufkommt, wenn es sportlich für sie mal nicht so gut läuft.

Heimweh ist sicherlich nicht gerade eine coole Sache. Gehen die Spieler offen mit diesem Thema um?

Otto: Schwierig zu sagen. Ich persönlich empfinde es nicht als Schwäche. Weil es ja eigentlich positiv ist, wenn junge Leute aus einem funktionierenden Elternhaus kommen und sie ihre Familie und Freunde sehr vermissen. Aber: Wir befinden uns in einem NLZ eines Bundesligisten natürlich auch im Leistungsbereich des Fußballs. Von daher geht naturgemäß niemand gern mit so etwas wie Heimweh vor allen anderen hausieren.

Was tun Sie, um jungen Leuten mit Heimweh zu helfen?

Otto: Gerade in der Anfangszeit ermöglichen wir möglichst viele Heimat-Aufenthalte, um den Abnabelungsprozess so fließend wie möglich zu gestalten. Zum Beispiel ist bei uns Mittwochnachmittags und im Idealfall am Sonntag immer frei. Die Spieler können dann bis zum nächsten Tag in die Heimat. Ansonsten ist es wichtig, auf die jungen Leute einzugehen. Wir haben eine ganze Anzahl von erfahrenen Sozialpädagogen, die den Jungs neben den sportlich Verantwortlichen als Bezugspersonen zur Verfügung stehen. Sowohl Männer als auch Frauen mit viel Einfühlungsvermögen. So, dass die Spieler möglichst für all ihre Sorgen - wenn sie denn welche haben - die richtige Ansprechperson finden können und möglichst viel Zuneigung bekommen. 

Kann ein Internat eines Nachwuchsleistungszentrums ein Elternhaus wirklich adäquat ersetzen?

Otto: Nein, das geht nicht vollständig. Wir können nur versuchen, das Klima in unserem Internat so zu gestalten, dass es dem Elternhaus so nahe wie möglich kommt.

Die Nachwuchsleitungszentren bei Bundesligisten gibt es ja noch nicht so lange. Muss ein Profiverein den richtigen Umgang mit Internatsspielern auch erst einmal lernen?

Otto: Ja, natürlich ist Erfahrung im Umgang mit den jungen Leuten elementar wichtig. Wir haben beim VfB Stuttgart den Vorteil, dass wir das schon vergleichsweise sehr lange machen. Schon in den 90er Jahren hatten wir ein Jugendhaus in Bad Cannstatt. Dort wohnte eine Familie zusammen mit den Jungs. Seit 2006 haben wir das Jugendinternat gleich neben dem Stadion. Hier stecken also 15 Jahre pure Erfahrung drin.

Welche Erkenntnise haben sie gezogen?

Otto: Die Auswahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist immens bedeutend. Sie müssen die Qualitäten haben, die die Jungs in dieser speziellen Situation brauchen und das sind nicht immer nur höchster Bildungsgrad, sondern vielmehr auch Wärme und Lebenserfahrung. Auch Verständnis für den durchgetakteten Wochenablauf und die Herausforderungen, denen sich die Jugendlichen gegenübersehen, ist essenziell wichtig. Hier hilft mir beispielsweise, dass ich den Fußball durch meine eigenen Erfahrungen als Fußballprofi gut kenne, und die Jungs dadurch nicht nur durch angelesene Theorie, sondern durch eigene Erfahrungen begleiten kann.

Hatte das einstige System mit Gastfamilien in puncto Heimweh Vorteile gegenüber dem Leben in einem Internat?

Otto: Es hatte sicher seine Vorteile, wenn Gastfamilie und Gast sich so gut verstanden haben, dass sie wirklich ein tolles und vertrautes Verhältnis miteinander aufgebaut haben. Das Risiko, dass dies nicht gelingt, ist aber genauso vorhanden. Im Internat haben die jungen Leute hingegen die Möglichkeit, sich aus erheblich mehr potenziellen Ansprechpartnern die für sie richtigen Bezugspersonen selbst auszuwählen. 

Ist es für junge Spieler aus dem Ausland noch einmal schwieriger, sich in einem NLZ eines deutschen Bundesligisten zurechtzufinden?

Otto: Wir haben aktuell in unserem Internat vier Spieler aus dem näheren Ausland -  Schweiz, Österreich. Für die ist es sicherlich schwieriger, weil sie einfach nicht so oft nach Hause können wie die anderen. Da muss man dann noch genauer hinschauen, wie es ihnen geht. Mit ihnen muss man sich auf jeden Fall noch intensiver beschäftigen.

Ist es schon häufig vorgekommen, dass es ein talentierter Spieler wegen so etwas wie Heimweh nicht zum Profi geschafft hat?

Otto: Unmöglich, das so genau zu benennen. Wenn es talentierte Jungs nicht schaffen, wird es dafür immer mehrere Gründe geben. Heimweh kann aber einer davon sein.