Kann aus ihrer Fußball-Laufbahn nach eigenen Worten auch von Erfahrungen mit Sexismus berichten: Anja Mittag.
interview

Ex-Nationalspielerin Mittag vor dem EM-Finale "Deutschland hat die Mittel, England zu schlagen"

Stand: 29.07.2022 09:00 Uhr

Anja Mittag hat in 158 Länderspielen 50 Tore erzielt. Beim letzten deutschen EM-Sieg 2013 schoss sie das Siegtor. Am Sonntag wird die 37-Jährige, die im Fußball alle großen Titel gewonnen hat, als Zuschauerin beim EM-Finale zwischen England und Deutschland im Wembley-Stadion sein.

Frau Mittag, aus der "Wundertüte" Deutschland ist ein EM-Finalist geworden. Haben Sie vor dem Turnier damit gerechnet?

Anja Mittag: Ich hatte schon ein gutes, ein positives Gefühl. Ich schaue aber immer mit einem anderen Blick auf die deutsche Mannschaft. Und natürlich bin ich auch ein großer Fan. Eine Überraschung ist sicherlich, dass sie so durchs Turnier gehen. Damit hätte sicher niemand gerechnet. Das war einfach eine grandiose Leistung.

Trauen Sie dem Team von Martina Voss-Tecklenburg nun auch den Titelgewinn in Wembley zu?

Mittag: Wer, wenn nicht Deutschland, sollte in diesem Turnier den Titel holen? Ich glaube, dass Deutschland definitiv die Mittel hat, England zu schlagen.

Welche Mittel sind das?

Mittag: Die Leidenschaft, die Laufbereitschaft - wie sie gegen den Ball spielen, wie sie schnell umschalten, wie sie die zweiten Bälle gewinnen. Sie haben eine Alex Popp, die extrem effektiv ist, eine kompakte Abwehr, sie spielen ein super Gegenpressing. Das macht echt Spaß zuzusehen und ich bin richtig stolz auf die Mannschaft.

Wo schauen Sie die EM-Spiele?

Mittag: Ich war gegen Dänemark und gegen Spanien im Stadion. Auch am Sonntag werde ich im Wembley-Stadion live dabei sein. Das war schon länger geplant und es ist wunderbar, dass ich jetzt auch noch ein deutsches Spiel sehe. Die anderen Spiele habe ich zu Hause vorm Fernseher geschaut.

Im Deutschland-Trikot?

Mittag: Nee, das würde ja bedeuten, ich müsste mein eigenes Trikot anziehen, und das finde ich dann doch irgendwie ein bisschen merkwürdig.

Werden Sie das erste Mal im Wembley-Stadion sein?

Mittag: Nein, ich habe mit dem Nationalteam 2014 dort mal gespielt, vor 45.000 Zuschauern. Ich bin nach der Pause eingewechselt worden und wir haben 3:0 gewonnen.

Sie haben lange mit Alexandra Popp gespielt. Was sagen Sie zu ihrer Leistungsexplosion bei ihrer ersten EM nach langer Verletzungspause und Corona-Infektion?

Mittag: Es spricht für ihre Mentalität. Wenn man sieht, wie losgelöst sie ist, wenn sie ein Tor macht, wie sie auch für die Mannschaft arbeitet. Sie gibt niemals auf. Es ist so schön, das zu sehen. Ich habe mir auch die NDR Doku über sie angeschaut. Wenn man das sieht, der lange Weg durch die Reha - da kann man ihr so eine Leistung wie jetzt bei der EM nur wünschen. Es ist der Beweis, dass sich harte Arbeit lohnt. Aber es gehört natürlich auch immer Glück dazu. Wir wissen nicht, wie es gelaufen wäre, wenn sich Lea Schüller nach dem ersten Spiel nicht mit Corona infiziert hätte. Alex war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Am achten und bis dato letzten EM-Titel des DFB-Teams 2013 in Schweden waren Sie maßgeblich beteiligt. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Mittag: Wenn man das Turnier betrachtet, war es von uns kein gutes Turnier - jedenfalls nicht so ein gutes wie jetzt die EM. Aber manchmal spielt das keine Rolle, wenn du am Ende den Titel gewinnst. Ich wurde in der Halbzeit eingewechselt und habe kurz darauf das Tor gemacht - schöner kannst du es nicht erleben. Natze (Nadine Angerer/d. Red.) hatte natürlich auch großen Anteil daran mit zwei gehaltenen Elfmetern im Finale. Das war der Wahnsinn.

Die EM im Mutterland des Fußballs bricht Rekorde und erzielt sehr viel Aufmerksamkeit. Wie nehmen Sie das Turnier und die Entwicklung des Frauenfußballs insgesamt wahr - vor allem im Vergleich zu Ihrer aktiven Zeit im Profifußball?

Mittag: Wenn man noch selber aktiv ist, bekommt man häufig gar nicht so mit, was in Deutschland los ist, wie die Außendarstellung ist. Das habe ich jetzt zum ersten Mal so erlebt. Die EM hat eine enorme Präsenz. Das finde ich toll, und es macht mich auch immer noch stolz, zumindest ein Teil von dieser Entwicklung gewesen zu sein.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung des Spiels an sich?

Mittag: Es ist eine individuelle Entwicklung zu sehen, eine athletische, eine taktische. Man sieht eine Idee dahinter und eine technische Qualität. Da werden spielerische Lösungen unter Druck gefunden. Es ist toller Fußball, vor allem jetzt in der K.o.-Runde.

Was muss Ihrer Meinung nach im deutschen Vereinsfußball geschehen, damit mit England, Spanien, Frankreich und Italien Schritt gehalten werden kann?

Mittag: Ich würde nicht sagen, dass Deutschland abgehängt ist. Der einzige Vorreiter, den wir haben, ist England. Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Spanien an uns vorbeigezogen ist. Wir müssen uns doch nur das Abschneiden der deutschen Teams in der Champions League im Vergleich anschauen. Wolfsburg war im Halbfinale, Bayern München im Viertelfinale. Hoffenheim ist in der Vorrunde ausgeschieden, aber die waren auch zum ersten Mal dabei.

Aber natürlich muss das Ziel sein, die Bundesliga zu stärken und gute Bedingungen für alle zu schaffen. Es dürfen nicht nur Wolfsburg und Bayern von der Entwicklung profitieren, weil sie finanzstarke Männer-Clubs im Rücken haben, sondern auch Vereine wie Turbine Potsdam.

In England müssen die Lizenzvereine auch ein Profi-Frauenteam haben. Wäre das Ihrer Meinung nach auch der richtige Weg im deutschen Fußball?

Mittag: Es wäre eine Möglichkeit - vielleicht nicht als verpflichtende Auflage sofort, aber mittelfristig könnte man dort ansetzen. Ich glaube schon, dass die Bundesliga attraktiver würde, je mehr Männer-Profivereine dort mit einem Frauenteam vertreten wären. Aber das ist ein langer Weg, das lässt sich nicht innerhalb von ein oder zwei Jahren umsetzen.

Sie sind inzwischen Co-Trainerin bei RB Leipzig in der zweiten Bundesliga. Was tut RB, um sein Frauenteam voranzubringen?

Mittag: Wir sind natürlich noch ein junger Verein, da ist noch nicht alles perfekt. Aber sie versuchen, uns gute Trainingsbedingungen zu schaffen. Wir wachsen Stück für Stück, können die Akademie nutzen, die Leistungsdiagnostik, den Soccer-Bot für das virtuelle Training.

Für wann hat RB das Ziel Bundesliga-Aufstieg ausgegeben?

Mittag: Es gibt keine Agenda, bis wann wir was erreichen müssen. Wir sollen organisch wachsen. Aber es ist auch kein Geheimnis, dass wir in die Bundesliga wollen. Wir haben es jetzt zwei Jahre nacheinander als Dritter in der zweiten Bundesliga verpasst und nehmen diese Saison einen neuen Anlauf.

Sie haben sich kürzlich zu sexistischen Sprüchen im Fußball geäußert - ein Problem, das wohl fast jede Frau, die im Fußball unterwegs ist, kennt. Warum wird es erst jetzt thematisiert?

Mittag: Ich glaube, dass in letzter Zeit in der Gesellschaft viel passiert ist in Sachen Akzeptanz von Frauen. Wir werden mehr gehört und schaffen uns auch eine eigene Plattform dafür. Es wird jetzt eben nicht mehr einfach weggelächelt. Und Frauen werden natürlich auch mutiger, wenn sie sehen, dass andere sich stark machen. Da sind auch die Sportvereine gefragt, die Schulungen zu diesen Themen anbieten sollten, sowohl für Frauen und Mädchen als auch für Jungen und Männer in den Vereinen. Der gegenseitige Respekt muss vorgelebt werden.

Sie sind noch bei Eintracht Leipzig-Süd gemeldet, immerhin ein Regionalliga-Team. Wie häufig spielen Sie dort noch?

Mittag: Letzte Saison habe ich noch drei Spiele mitgemacht. Ich weiß noch nicht, wie es in der kommenden Saison laufen wird. Mal sehen, wie ich mich fühle.

Das Interview führte Ines Bellinger.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 31.07.2022 | 17:30 Uhr