Die englische Fußball-Nationalspielerin Ellen White ist auf einer Leinwand zu sehen, angestrahlt von Scheinwerferlicht.

Turnier der Superlative EM im Mutterland des Fußballs - eine Zeitenwende

Stand: 06.07.2022 14:07 Uhr

Spannend wie nie und top vermarktet: Die Europameisterschaft der Frauen in England ist ein großes Versprechen - noch bevor der erste Ball rollt.

Der Zuschauerrekord ist schon geknackt. Mehr als eine halbe Million Tickets sind vor dem Eröffnungsspiel der 13. Frauen-Europameisterschaft zwischen England und Österreich heute (21 Uhr MESZ/ im Ersten und bei sportschau.de) verkauft. Zum Auftakt werden im ausverkauften Old Trafford von Manchester rund 74.000 Fans erwartet. Die Gastgeber und auch Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg erwarten "ein tolles Fußballfest" - und der englische Verband FA "das größte europäische Frauen-Sport-Event der Geschichte".

Steinhaus: "Begeisterung ist greifbar"

Wie groß die Vorfreude im Mutterland des Fußballs ist, das kann Bibiana Steinhaus-Webb aus erster Hand berichten. Die ehemalige FIFA-Schiedsrichterin managt das Schiedsrichterwesen für die beiden Top-Ligen der Frauen auf der Insel. "Die Begeisterung im Land für die EM ist deutlich zu spüren, absolut greifbar", sagt sie im Sportschau-Interview. "Was mich in England sehr begeistert, ist vor allem die Sichtbarkeit des Frauenfußballs." Nationalspielerinnen seien in den Medien präsent, die Strukturen professionell. "Da sind Vereine führend, die auch im Männerfußball herausragende Rollen spielen. Dieser Profit voneinander ist etwas, was hier ganz besonders gelebt wird."

Was mich in England sehr begeistert, ist vor allem die Sichtbarkeit des Frauenfußballs.
Bibiana Steinhaus-Webb

Künzer: Verzahnung mit Männer-Lizenzvereinen

Auch ARD-Expertin Nia Künzer lobt die "enorme Entwicklung", die England in sehr kurzer Zeit genommen habe. "Die Ernsthaftigkeit, mit der die Verzahnung mit den Männer-Lizenzvereinen gelebt wird, eine Art Gleichbehandlung, was die Strukturen, die Rahmenbedingungen, aber auch das Marketing betrifft, hilft natürlich der Sportart enorm", sagt sie.

In Spanien, Frankreich und Italien werden längst ähnliche Anstrengungen unternommen. Und auch in der Bundesliga werden in der neuen Saison nur noch zwei Clubs vertreten sein, die nicht unter dem Dach eines Männer-Vereins aus den ersten drei Ligen organisiert sind.

DFB muss "Gas geben"

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat inzwischen offenbar erkannt, in den vergangenen Jahren etwas verpasst zu haben. Gerade wurde eine Zukunftsstrategie vorgestellt, die einen Aufschwung in Gang setzen soll. "Wir müssen jetzt richtig Gas geben, um etwas nachzuholen und voranzukommen", sagt Doris Fitschen, DFB-Koordinatorin Strategie Frauen im Fußball.

Keßler: So viele Rekorde wie möglich brechen

In England funktionieren die Synergien bereits so gut, dass das Interesse an Frauenspielen sprunghaft gestiegen ist. Schon vor drei Jahren spielte das deutsche Team in Wembley vor mehr als 78.000 Zuschauern gegen England. Bei der EM will die UEFA nun will "so viele Rekorde wie möglich brechen", so die frühere Wolfsburgerin und Weltfußballerin Nadine Keßler, die beim europäischen Dachverband für den Frauenfußball verantwortlich zeichnet.

Gunnarsdottier nennt Mini-Stadien "peinlich"

Das betrifft neben der digitalen und der TV-Reichweite auch die Besucherzahl: Die Bestmarke für ein EM-Turnier liegt bei 243.400, so viele kamen insgesamt 2017 in den Niederlanden. Das Finale in Wembley war binnen einer Stunde ausverkauft, die EM-Spiele des englischen Teams nur wenig später.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Einige Spiele finden in Mini-Arenen statt - zum Beispiel im Manchester City Academy Stadium mit einer Kapazität von 4.700 Fans oder das Leigh Sports Village mit einem Fassungsvermögen von 8.000 Zuschauern. Als "respektlos" und "peinlich" hatte das Islands Spielführerin Sara Björk Gunnarsdottir bezeichnet.

Als die EM geplant wurde, habe man in England einfach nicht mit einem solchen Aufschwung gerechnet, sagt Steinhaus-Webb. Man habe deshalb auch Stadien ausgewählt, von denen man sich sicher war, dass man sie auch füllen könne. "Das ist jetzt ein Super-Lerneffekt für die nächsten Europameisterschaften, wo wir dann definitiv größere Stadien aufsuchen müssen", sagt sie.

16 Millionen Euro Prämien von der UEFA

Die UEFA schüttet dieses Mal 16 Millionen Euro an Prämien aus, was natürlich nicht ansatzweise an die über 330 Millionen von der Männer-EM 2021 herankommt. Nach einem FA-Report werden während des Turniers in den neun Austragungsorten 54 Millionen Pfund (rund 63 Millionen Euro) umgesetzt. 250 Millionen TV-Zuschauer sollen in 195 Ländern Spiele anschauen.

Organisatoren, UEFA und auch die nationalen Verbände wie der DFB erhoffen sich eine nachhaltige Wirkung für ihren immer noch nicht voll akzeptierten Sport. "Natürlich darf man die Meinung haben, dass es nicht genug ist", sagt Keßler. "Aber wenn man die Euro insgesamt mit der letzten vergleicht, dann ist dieses Turnier fünfmal so groß - und auch fünfmal so teuer - wie das, was wir 2017 hatten."

Ein halbes Dutzend Titelanwärter

Der Reiz dieser EM, die in diesem Sommer ohne die Konkurrenz eines internationalen Männerturniers stattfindet, besteht auch in ihrer sportlichen Ausgeglichenheit: Mindestens einem halben Dutzend Teams - darunter England, Spanien, Frankreich und die Niederlande - wird der Titel zugetraut. Vor allem die Erwartungen an das englische Team um die Stars Lucy Bronze und Ellen White sind groß. Bisher haben die Engländerinnen noch keine große Trophäe gewonnen.

Voss-Tecklenburg: Anschauen lohnt sich

Rekord-Europameister Deutschland muss zunächst darauf hoffen, die starke Vorrundengruppe mit Dänemark und Spanien zu überstehen. Die Zeiten, in denen das DFB-Team die Titel reihenweise einsammelte, sind längst passé. Der Anziehungskraft des Sports kann das nur dienen. Schließlich wollen nicht nur die deutschen Fußballerinnen von der Strahlkraft des Turniers langfristig profitieren.

Die EM bedeute "die riesige Chance, auf einer großen Bühne äußerst attraktiven Sport zu zeigen. Die Aufmerksamkeit auf den Frauenfußball zu lenken und die nächsten Schritte zu machen", sagt Voss-Tecklenburg im "FAZ"-Interview. Jedem, der es nicht ohnehin auf dem Zettel hat, rät die Bundestrainerin: "Schaut es euch an, es lohnt sich."

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 06.07.2022 | 20:15 Uhr