Nationalspielerin Giulia Gwinn bei der Grätsche

Giulia Gwinn Mit "Wahnsinnsschritten" vom Kreuzbandriss ins EM-Finale

Stand: 30.07.2022 08:00 Uhr

In der Startelf von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg ist Giulia Gwinn gesetzt. Die Außenverteidigerin von Bayern München wird bei der EM von Spiel zu Spiel stärker. Mit ihrer Leistung gegen Frankreich zeigte sie eindrucksvoll, dass sie bereit ist für das Finale gegen England.

Von Florian Neuhauss (London)

Gwinn war gegen Frankreich kein Weg zu weit. Eben noch rechts vorne, schoss sie Mitte der zweiten Hälfte einmal quer durch den eigenen Strafraum. Die Französin Delphine Cascarino hatte mit einem steilen Pass in den Sechzehner ihre Mitspielerin Selma Bacha in Szene gesetzt. Die Jokerin wäre zur Grundlinie durchgebrochen und hätte für große Gefahr vor dem deutschen Tor gesorgt. Wenn da nicht Gwinn gewesen wäre und einmal mehr ihre große Defensivlust gezeigt hätte. Sie drängte Bacha gekonnt ab und beendete den Angriff.

Wir sind alle füreinander gelaufen. Wenn eine ausgespielt wurde, war die andere da.
Giulia Gwinn

Dabei war die 23-Jährige früher eher in den gegnerischen Strafräumen zu Hause. Erst Jens Scheuer, schon in Freiburg und dann bis zur EM auch in München ihr Trainer, machte aus Gwinn eine moderne Außenverteidigerin. Sie weiß sich hinten durchzusetzen, schaltet aber auch immer wieder den Offensivgang ein. Und so hatte sie sowohl bei der Entstehung des 1:0 als auch vor dem Siegtreffer zum 2:1 gegen Frankreich ihren rechten Fuß im Spiel.

Dickes Lob von der Bundestrainerin

Gwinns Stern auf der großen Bühne war vor drei Jahren bei der WM in Frankreich aufgegangen, als sie Deutschland zum Auftaktsieg gegen China geschossen hatte und trotz des Ausscheidens im Viertelfinale zur besten jungen Spielerin des Turniers gewählt wurde. Wie für die junge Frau vom Bodensee war es für Voss-Tecklenburg damals das erste große Turnier als Bundestrainerin, und die weiß längst, dass sie sich auf ihre Außenverteidigerin verlassen kann.

Nach dem Frankreich-Spiel betonte die 54-Jährige erst, dass sie keine Spielerin, sondern nur das Team loben wolle. Kurz darauf sagte sie dann allerdings: "Giulia ist Wahnsinnsschritte in ihrer Entwicklung gegangen. Sie ist als Persönlichkeit, aber auch auf dem Spielfeld gewachsen."

In der Verletzungspause hilft die Corona-Pandemie

Gwinn lächelte, als sie von den Worten hörte, und berichtete von ihrem Kreuzbandriss im Jahr 2020 bei einem Länderspiel. Von diesem Rückschlag habe sie sich nicht unterkriegen lassen: "Ich wollte unbedingt zu dieser EM und habe alles dafür getan, um dabei zu sein."

Wie Alexandra Popp bei ihrem EM-Fluch half auch Gwinn die Verschiebung des Turniers wegen der Corona-Pandemie. Fast ein Jahr fehlte sie ihrem Club nach der Verletzung. 397 Tage vergingen, bis sie zur Nationalmannschaft zurückkehrte. Auf 20 Einsätze und fünf Tore brachte es die flinke Flügelspielerin in der vergangenen Saison nach ihrem Comeback für Bayern München - und machte damit auch die Bundestrainerin wieder auf sich aufmerksam.

Die drei Fragezeichen zahlen MVT-Vertrauen zurück

Es ist auffällig, dass nicht zuletzt die Spielerinnen, hinter denen eine längere Verletzungspause liegt, bei dieser EM so sehr zu gefallen wissen. Neben Popp und Gwinn zahlt auch Abwehrchefin Marina Hegering das Vertrauen von MVT von Anfang an mit Leistung zurück. Gwinn, die während der Zeit in England schon mehrere Prüfungen für ihr Sportmanagement-Studium abgelegt hat, überzeugt mit großer Passgenauigkeit, hohem Laufeinsatz und immer wieder auch mit wichtigen Balleroberungen.

"Ich wollte Cascarino von Beginn an stören"

Und Gwinn ist jetzt bereit für das Finale. "Ich gebe alles für die Mannschaft und will ihr Sicherheit geben", betonte die 23-Jährige, die im Halbfinale Superstar Cascarino aus dem Spiel genommen hatte. "Ich schaue mir immer genau an, mit wem ich es im Spiel zu tun bekomme. Cascarino steht für Power und Dynamik. Ich wollte sie von Anfang an stören - und das ist mir gut gelungen." Erst wurde die Stürmerin von Olympique Lyon auf die andere Seite beordert, dann ausgewechselt. "Wir haben das als Mannschaft gut verteidigt", sagte Gwinn bescheiden.

Im Finale warten rassige Duelle mit Lauren Hemp

Im Finale wird sie wieder von ihrer Familie unterstützt. Diesmal aber nicht nur von ihren Eltern, die schon die ganze EM-Zeit mit ihrem Wohnmobil unterwegs sind. Weitere Familienmitglieder haben sich angekündigt - darunter ihre Schwester und die Brüder, die auch noch Kumpels aus der Fußball-Mannschaft mitbringen, die zuletzt zusammen auf Mallorca mitgefiebert haben.

Es geht also mit großer Unterstützung in die Zweikämpfe des Endspiels, wenn Gwinn es vor allem mit der englischen Linksaußen Lauren Hemp zu tun bekommen dürfte. Bei den Gastgeberinnen konzentriert sich vieles auf Beth Mead, die mit Popp um die Torjägerinnen-Kanone streitet, und Mittelstürmerin Ellen White. Aber auch Hemp ist brandgefährlich und war bisher an drei Treffern direkt beteiligt.

"Das Finale zu erreichen, ist der Traum einer jeden einzelnen in unserem Team", sagte Gwinn. Der Weg war weit. Aber nun fehlt nur noch ein Schritt zum größten Erfolg ihrer bisherigen Karriere.