Frankreichs Mbappé (links) im Spiel gegen Dänemark
analyse

FIFA WM 2022 WM-Negativrekord droht, aber das Spektakel nimmt zu

Stand: 29.11.2022 08:19 Uhr

Die erste Woche der WM 2022 in Katar war bei vielen Mannschaften von Vorsicht geprägt, es gab einige torlose Remis. Doch mittlerweile wagen die Teams mehr - und die Spiele werden attraktiver.

Das zweite Vorrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien (1:1) war ein echter Leckerbissen. Zwei große Fußballnationen lieferten sich eine Partie, die spielerisch, technisch und taktisch hochklassig war. Beide Teams agierten auf Augenhöhe, zeigten sich mit dem Remis nicht zufrieden, drängten in der Schlussphase auf den Siegtreffer und hätten ihn angesichts zahlreicher Chancen auch erzielen können.

"De Volkskrant": "Ein herrliches Schauspiel"

Es war wohl das bislang beste Spiel der WM 2022 in Katar und sorgte für Begeisterung in der ganzen Welt. So urteilte etwa die niederländische Zeitung "De Volkskrant" über das Match: "Spanien ist wie ein rotes Mosaik, das über die Felder in Katar schwebt, in Harmonie und Schönheit. Spielerisch und gekonnt. Aber als Spanien den Deutschen die zweite Niederlage beizubringen schien, bot der eingewechselte Stürmer Niclas Füllkrug eine neue Perspektive. Ein herrliches Schauspiel war besonders die zweite Halbzeit dieses frühen WM-Topspiels.

Unmittelbar vor dem deutschen Spiel gegen Spanien hatte sich Kroatien mit 4:1 gegen Kanada durchgesetzt. Einen Tag später folgten zwei weitere Spiele, die unter die Rubrik "Spektakel" fallen. Erst trennten sich Serbien und Kamerun in einem aufregenden Match 3:3, anschließend setzte sich Ghana 3:2 gegen Südkorea durch.

"Safety first" in der ersten WM-Woche

Mit etwas Verspätung scheint die WM 2022 also endlich sportlich durchzustarten. Das sah in der zu großen Teilen zähen ersten Woche des Turniers noch ganz anders aus. Diese war geprägt von zahlreichen mutlosen Auftritten vieler Mannschaften, bei denen die Devise "Safety first" zu lauten schien.

Ein neuer Negativ-Rekord scheint möglich

Dieser Trend zur Risikominimierung zu Beginn der WM 2022 lässt sich anhand von Zahlen belegen: Bereits fünf Mal gab es in Katar ein 0:0 - der Turnierrekord steht bei bei sieben Spielen ohne Treffer. Zum Vergleich: 2018 in Russland gab es überhaupt nur ein torloses Remis .

Dass in Katar eine neue WM-Negativmarke aufgestellt wird, scheint durchaus möglich, schließlich folgen noch ein kompletter Vorrundenspieltag und anschließend die K.o.-Runde.

Weitere Belege für den verhaltenen WM-Beginn: In Katar hieß es bisher bei 16 von 32 Spielen zur Halbzeit 0:0 - bei jeder zweiten Partie. Bei der Nullnummer zwischen Uruguay und Südkorea musste sogar keiner der beiden Torhüter in der kompletten Partie einen Torschuss abwehren. Auch wenn sich die Qualität von Fußballspielen nicht ausschließlich an Toren bemisst, sind das frappierende Fakten.

Oliseh: "Teams wollen zu Beginn kein Risiko eingehen"

Doch woran lag es, dass so vielen Mannschaften in ihrem ersten Turnierspiel das Toreverhindern wichtiger war, als selbst Treffer zu erzielen? "Das passiert, weil die Teams zu Beginn nicht zu viel Risiko eingehen wollen", sagte Sunday Oliseh, der als Mitglied der Technical Study Group (TSG) des Weltverbands FIFA in Katar ist. Der frühere Bundesligaspieler wertet mit der TSG, die von Trainer-Legende Arsène Wenger geleitet wird, die Spiele aus, um Trends und Entwicklungen im Weltfußball zu erkennen.

Für den Nigerianer ist die Defensivtaktik vieler Länder in der ersten Partie daher keine Überraschung. "Daten zeigen, dass 70 Prozent der Teams, die ihr erstes Spiel verloren haben, in der Gruppenphase ausscheiden - das wissen alle", sagte er.

Zaccheroni: "Im ersten Spiel mindestens einen Punkt sichern"

Ähnlich sieht es der italienische Trainer Alberto Zaccheroni, der ebenfalls der TSG angehört. "Viele Mannschaften setzen auf einen vorsichtigen Ansatz mit Fünferkette bei gegnerischem Ballbesitz, um sehr kompakt zu stehen", analysierte er. "Sie wollten sich aus dem ersten Spiel mindestens einen Punkt sichern."

Verteidigen ist einfacher als angreifen

Die Sorge, nach einer Auftaktniederlage im zweiten Gruppenspiel bereits mit dem Rücken zur Wand zu stehen, ist also ein Grund für das mäßige Niveau der ersten WM-Woche.

Kurze Vorbereitungszeit, keine Automatismen

Ein weiterer ist die Tatsache, dass viele Spieler bis kurz vor der WM mit ihren Klubs oft in mehreren Wettbewerben auflaufen mussten. Die Vorbereitungszeit mit den Nationalteams war extrem kurz, Automatismen konnten sich deshalb nur wenige bilden. Aufgrund dieses Missstands griff für viele Mannschaften in ihrem Auftaktmatch eine alte Fußballweisheit: Verteidigen ist einfacher als angreifen.

Offensiv agierten bei dieser Weltmeisterschaft bisher vorrangig die Teams, die gut eingespielt sind - etwa weil sie bereits über einen langen Zeitraum zusammenspielen. Zudem gibt es auch Mannschaften, deren individuelle Qualität derart hoch ist, dass sie lieber agieren statt zu reagieren. Diese sind aber in der Minderheit.

Pressing als beliebtes Stilmittel

Schließlich kommt auch noch die taktische Ausrichtung dazu, die bei vielen Teams ähnlich ist. So fokussieren sich zahlreiche Mannschaften auf intensives Pressing und auf Gegenpressing bei gegnerischem Ballbesitz statt darauf, selbst das Spiel zu machen.

"Durchs Gegenpressing sparen sich die Spieler lange Wege zurück, um das eigene Tor zu verteidigen - und sie können verhindern, dass der Gegner Zeit bekommt, eine Unordnung in der Rückwärtsbewegung auszunutzen. Insofern ist Gegenpressing nicht nur ein offensives, sondern auch ein defensives Stilmittel", sagte Oliseh.

Vereinfacht ausgedrückt: Auf das Pressingelement und auf Konter nach Ballgewinnen zu setzen ist für sehr viele Mannschaften deutlich leichter, als bei eigenem Ballbesitz Chancen zu kreieren.

Auch am ersten Spieltag gab es Spektakel

Doch auch am ersten WM-Spieltag gab es durchaus Spiele, die die Fans begeisterten. Etwa das 4:1 der Franzosen gegen Australien, das 6:2 Englands gegen den Iran oder das begeisternde Offensivfeuerwerk der Spanier beim 7:0 gegen Costa Rica.

Auch waren die deutsche Pleite gegen Japan (1:2) oder die sensationelle Niederlage Argentiniens gegen Saudi-Arabien (1:2) für den neutralen Beobachter vermutlich sehr unterhaltsam.

Am zweiten Vorrundenspieltag der WM 2022 ist das Niveau gestiegen. Nicht nur durch die Spiele mit vielen Toren - auch enge Partien wie Frankreich gegen Dänemark (2:1) wussten zu überzeugen.

Auf dem Niveau vergangener Weltmeisterschaften

Sichtbar ist, dass in ihrer zweiten Partie deutlich mehr Teams die Offensive suchten - natürlich auch, weil sie durch ihr erstes Spiel teilweise unter Druck standen.

Und so wenige Tore - trotz der vielen Nullnummern und lahmen ersten Halbzeiten - sind in Katar bisher auch gar nicht gefallen. Bereits jetzt liegt der Schnitt pro Partie mit 2,53 fast auf dem Niveau der Weltmeisterschaften in Russland 2018 (2,64) und in Brasilien 2014 (2,67). In Südafrika 2010 (2,27) war der Wert deutlich geringer als bisher 2022.

Geht es nach Zaccheroni und der TSG, dann wird sich die WM ohnehin noch deutlich steigern. "Im Laufe des Turniers werden wir weiter sehen, dass die Mannschaften mehr wagen werden", prognostizierte er.

Fans und alle Fußball-Interessierten dürfen sich also auf das freuen, was noch kommt. Schließlich war das auch bei vergangenen Turnieren so: Die allermeisten großen sportlichen Momente gab es ab der K.o.-Phase. Die WM 2022 in Katar hat also gerade erst Fahrt aufgenommen.