Fußball | Premier League West Ham United: Die wundersame Wandlung der "Hammers"

Stand: 26.11.2021 13:55 Uhr

Unter Trainer David Moyes befreit sich West Ham United vom Ruf als Chaos-Klub und spielt um die Champions-League-Plätze mit. Der Trainer hat eine Mannschaft ganz nach seinem Bild geschaffen.

Von Hendrik Buchheister (Manchester)

Mit ihrem Betragen neben dem Platz haben die Spieler von West Ham United in der Vergangenheit maßgeblich dazu beigetragen, dass der Ruf als Chaos-Verein ein ständiger Begleiter der Ostlondoner war. Ein hübsches Beispiel ist die weihnachtliche Irrfahrt von Michail Antonio aus dem Jahr 2019. Als Schneemann verkleidet steuerte der Stürmer seinen Lamborghini am ersten Weihnachtsfeiertag in einen Londoner Vorgarten, sehr zur Erheiterung der englischen Boulevardpresse.

Aktuell lassen sich die privaten Aktivitäten der Spieler eher als Beleg für den guten Zustand deuten, in dem sich die “Hammers” befinden. Ein Video, in dem Kapitän Declan Rice einen Hit von Vanilla Ice neu interpretiert (Rice, Rice baby), erfreute sich gerade höchster Beliebtheit in den Sozialen Medien. Trainer David Moyes urteilte vergnügt: “Ich vermute nicht, dass er eine Karriere als Karaoke-Sänger plant.

Auswärtsduell bei Manchester City

Die Laune ist prächtig bei West Ham, und das aus gutem Grund: Seitdem Moyes den Klub seit Anfang 2020 zum zweiten Mal trainiert, geht es aufwärts. In der vergangenen Saison landete die Mannschaft vor den Londoner Rivalen Tottenham Hotspur und Arsenal und qualifizierte sich für die Europa League. In dem Wettbewerb steht West Ham nach dem 2:0 bei Rapid Wien unter der Woche schon einen Spieltag vor Ende der Vorrunde als Gruppensieger fest.

In der Premier League reist die Mannschaft am Sonntag (28.11.2021) als Tabellenvierter zu Manchester City und könnte mit einem Sieg mit dem Titelverteidiger nach Punkten gleichziehen. Trainer Moyes musste nach dem 3:2-Erfolg neulich gegen den bis dahin ungeschlagenen FC Liverpool sogar schon Fragen nach West Hams Meisterschafts-Ambitionen beantworten.

Ein Titelkandidat sind die “Hammers” zwar nicht, doch der Klub hat eine erstaunliche Wandlung vollzogen. Die Qualifikation zur Champions League zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte ist nach aktuellem Stand ein realistisches Ziel. Baumeister des Erfolgs ist Moyes, und das kommt überraschend. Der 58 Jahre alte Schotte galt schon als gescheitert nach seinen unglücklichen Engagements bei Manchester United als Nachfolger von Sir Alex Ferguson, bei Real Sociedad und dem AFC Sunderland. Gerade rehabilitiert er sich.

Eine Mannschaft ganz nach Moyes' Vorstellung

Sein Erfolg bei West Ham liegt darin begründet, dass er eine Mannschaft ganz nach seinem Bild geschaffen hat - bodenständig, fleißig und klar strukturiert. Einziger echter Star ist Kapitän Rice, der auch in Englands Nationalmannschaft das defensive Mittelfeld orchestrierte beim Weg zum Vize-Europameister im Sommer. Der 23-Jährige wird in jeder Transferphase mit einem Wechsel zu einem der großen Klubs der Premier League in Verbindung gebracht, ist den “Hammers” aber bisher loyal, auch wegen seiner Ausbildung in der Jugend des Vereins.

Unter Moyes wandte sich West Ham ab von einer Personalpolitik der großen Namen. Während in der Vergangenheit Profis wie Samir Nasri, Carlos Tevez, Marko Arnautović oder Chicharito bei West Ham gut verdienten, den sportlichen Erwartungen aber nicht gerecht worden, rekrutiert der Verein neuerdings eher unbekannte Spieler, die entschlossen sind, sich in der Premier League durchzusetzen.

Die besten Beispiele dafür sind die Tschechen Vladimír Coufal (Rechtsverteidiger) und Tomáš Souček (defensives Mittelfeld). Sie kamen im vergangenen Jahr für zusammen knapp 24 Millionen Euro von Sparta Prag und sind Schlüsselspieler unter Moyes.

Kein spektakulärer Fußball - aber effektiv

Die englische Fachwelt legt Wert darauf, dass ein Trainer “seine beste Elf kennt”, dass er also weiß, wie er seine Mannschaft aufzustellen hat, und Moyes weiß das. Er nominiert in der Premier League in jedem Spiel eine fast identische, eingespielte Startformation. Der Fußball der “Hammers” ist nicht spektakulär, aber effektiv. Die Mannschaft setzt auf eine solide Verteidigung, schnelles Umschalten und ihre Stärke bei Standards. Den Vorwurf, vor allem gegen große Mannschaften zu passiv zu sein, entkräftet West Ham in dieser Saison. In der Premier League gab es Siege gegen Tottenham und Liverpool, im Ligapokal gegen Manchester United und Manchester City.

West Hams Erfolg ist kein Zufall, dennoch ist der Aufschwung fragil. Bei der Kadertiefe kann der Klub nicht mit dem FC Chelsea, Liverpool oder den Vertretern aus Manchester mithalten. Verletzungen könnten die Mannschaft schwer treffen. Innenverteidiger Angelo Ogbonna riss sich gegen Liverpool das Kreuzband und fällt vermutlich für den Rest der Saison aus.

Das erste Spiel danach gegen die Wolverhampton Wanderers ging direkt verloren, 0:1. Der Fokus auf das Kollektiv bedeutet auch, dass es bei West Ham kaum jemanden gibt, der alleine den Unterschied ausmachen kann. Auch das wurde gegen die “Wolves” offensichtlich. Jesse Lingard wäre dazu in der Lage, doch er musste nach seiner Ausleihe zu Manchester United zurückkehren (und sitzt dort auf der Bank).

Keine großen Investments geplant

Abenteuer auf dem Transfermarkt wird West Ham in naher Zukunft nicht unternehmen, trotz der Finanzspritze durch den Einstieg des tschechischen Milliardärs Daniel Křetínský, der gerade 27 Prozent des Klubs übernommen hat. Sein Engagement soll helfen, Schulden zu tilgen und den Verein langfristig solide zu machen. Oder, wie Křetínský es in einem Gastbeitrag für den Londoner “Evening Standard” formulierte: “Unsere Investitionen werden eine positive Verbesserung der Kapitalstruktur des Klubs bringen.”

Verbesserung der Kapitalstruktur - solche Ziele eignen sich weniger dazu, Fans in Euphorie zu versetzen, als die Ankündigung spektakulärer Spielerkäufe. Doch die Vorgehensweise passt zum organischen Aufschwung der “Hammers” unter Moyes. Es soll Schritt für Schritt voran gehen bei den Ostlondonern. Die Qualifikation zur Champions League wäre nach dem Einzug in die Europa League die logische nächste Entwicklungsstufe.