Fußball | Premier League Thomas Tuchels neue Rolle als Chelseas Krisenmanager

Stand: 16.03.2022 17:41 Uhr

Die Sanktionen gegen den russischen Rohstoff-Milliardär Roman Abramowitsch erschüttern den FC Chelsea. Die Zukunft des Vereins steht auf dem Spiel. Trainer Thomas Tuchel muss unangenehme Fragen beantworten - und verdient sich den Respekt der Öffentlichkeit.

Von Hendrik Buchheister

Man muss das wahrscheinlich noch einmal erwähnen, weil es leicht in Vergessenheit geraten kann: Der FC Chelsea bestreitet an diesem Mittwoch (16.03.2022) sein Achtelfinal-Rückspiel in der Champions League beim OSC Lille. Die Chancen aufs Weiterkommen sind gut für die Mannschaft von Trainer Thomas Tuchel nach dem 2:0 im Hinspiel.

Größter Hoffnungsträger für das ungehinderte Vorrücken ins Viertelfinale ist Kai Havertz. Mit vier Toren in den jüngsten drei Chelsea-Spielen ist er in der besten Form seit seinem Umzug von Bayer Leverkusen nach England im Sommer 2020.

Der FC Chelsea wurde "eingefroren"

So viel nur zum Sportlichen - denn das Sportliche ist Nebensache bei Chelsea im Moment. Russlands Überfall auf die Ukraine hat, als eine von vielen Folgen, den Champions-League-Sieger ins Chaos gestürzt.

Die britische Regierung hat Sanktionen gegen Besitzer Roman Abramowitsch verhängt und als Begründung vermeintliche Verbindungen des russischen Rohstoff-Milliardärs zu Präsident Wladimir Putin genannt, die Abramowitsch bestreitet.

Die Strafen treffen Chelsea mit voller Wucht. Der Klub wurde "eingefroren", das heißt, er darf kein Geld mehr erwirtschaften. Für die restlichen Saisonspiele werden keine Karten mehr verkauft, der Fanshop musste schließen, Verträge mit Profis, deren Arbeitspapiere auslaufen, können nicht verlängert werden. Einer dieser Profis ist Antonio Rüdiger. Chelseas Frauen, aktuell englischer Meister und Vize-Champions-League-Sieger, könnten im Sommer vier Spielerinnen ablösefrei verlieren.

Klub steht zum Verkauf

Schon vor der Bestrafung durch die Regierung hatte Abramowitsch den FC Chelsea, den er seit seinem Einstieg 2003 mit Investitionen von rund zwei Milliarden Euro zur Weltmarke gemacht hat, zum Verkauf ausgeschrieben.

Mit diesem Vorgang ist jetzt eine US-amerikanische Handelsbank betraut. Sie nimmt bis Freitag Angebote für den Klub entgegen. Interessenten gibt es unter anderem aus den USA, England und offenbar auch aus Saudi-Arabien. Das Land hat eine verheerende Menschenrechtsbilanz und ist schon durch Newcastle United in der Premier League vertreten, wobei alle Seiten behaupten, der Staat Saudi-Arabien habe keine Kontrolle über den Verein.

Auf drei Milliarden Pfund (umgerechnet knapp 3,6 Milliarden Euro) wird der Wert des FC Chelsea geschätzt, doch nach den jüngsten Entwicklungen ist ein solcher Preis wohl nicht mehr realistisch. Weil sanktionierte Personen von jeglichen Profit-Möglichkeiten abgeschnitten werden sollen, soll Abramowitsch ohnehin kein Geld bekommen und hat auch kein Mitspracherecht bei dem Eigentümer-Wechsel. Stattdessen ist es die britische Regierung, die einen Verkauf absegnen muss.

Strenge Auflagen der britischen Regierung

Der Handel muss aus Chelseas Sicht schnell gehen, weil die laufenden Kosten wie zum Beispiel Spielergehälter (angeblich mehr als 33 Millionen Euro im Monat) den Verein bei ausbleibenden Einnahmen in den Ruin treiben könnten. Die Dringlichkeit wird dadurch verstärkt, dass Haupt- und Ärmelsponsor ihr Engagement bei dem Klub beendet haben.

Die Spiele der Londoner finden bis auf Weiteres unter strengen Auflagen der Regierung statt. Der Verein darf pro Partie an der heimischen Stamford Bridge nur jeweils etwas mehr als eine Million Euro für Catering, Sicherheitsdienst und sonstige Mitarbeiter am Spieltag ausgegeben. Die Reisekosten für Auswärtsspiele sind auf knapp 24.000 Euro begrenzt. Auslandsreisen in der Champions League mit Charterflug und Luxus-Hotel für eine Delegation von rund 50 Personen sind unter diesen Bedingungen unmöglich. Trainer Thomas Tuchel scherzte gerade, dass er die Mannschaft "zur Not auch in einem Siebensitzer-Bus" zum Spielort transportieren würde.

Tuchel managt die Krise

Weil im englischen Fußball Sportdirektoren und Manager praktisch unsichtbar operieren, ist Tuchel in der Öffentlichkeit das Gesicht und die Stimme des FC Chelsea. Aktuell muss er sich durch ein Dickicht aus Fragen manövrieren, die nicht sein Hoheitsgebiet – den Fußball – betreffen, sondern die Besitzverhältnisse in der Premier League, den Krieg in der Ukraine oder eben die Reiseplanung zu Auswärtsspielen.

Ungewollt ist Tuchel zum Hauptverantwortlichen für Chelseas Krisen-PR geworden, und er macht diesen Job insgesamt beachtlich. Auf Fragen antwortet er, so gut er kann, gesteht auch die Grenzen seines Wissens und lässt Humor durchschimmern, sofern es angebracht ist. Mit dem Champions-League-Sieg im vergangenen Jahr hat sich Tuchel in England Respekt als Trainer erworben, im Moment lernt ihn das englische Publikum als Persönlichkeit zu schätzen.

Fans und Verein agieren unglücklich

An ihm liegt es jedenfalls nicht, dass Chelsea wenig Wohlwollen in der Öffentlichkeit erfährt. Daran sind eher die Fans Schuld, die auch weiterhin Abramowitsch besingen. Beim jüngsten Heimspiel gegen Newcastle United (1:0 durch ein Havertz-Tor) war nach wie vor ein Banner mit dem Gesicht des Oligarchen und dem Wortspiel "Roman Empire" zu sehen. Der Verein selbst hat sich gerade damit blamiert, beim englischen Verband, der FA, die Austragung des Pokal-Viertelfinals am Samstag beim Zweitligisten Middlesbrough unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu beantragen.

Chelsea argumentierte mit der "sportlichen Integrität". Diese sei gefährdet, wenn der Heimverein ganz normal Karten verkaufen, man selbst aber keine Gästefans mitbringen dürfe. Nach nur wenigen Stunden zog Chelsea das Gesuch zurück – zu groß war die öffentliche Empörung.

"Chelsea und sportliche Integrität gehören nicht in den selben Satz", hatte zum Beispiel Middlesbroughs Geschäftsführer Steve Gibson gesagt. Es ist ein vernichtendes Urteil über den Champions-League-Sieger. Ein Urteil, das nachhallen wird.