Rebekka Haase

Burn-out im Sport Wenn der Weg zum Kühlschrank zu weit wird

Stand: 17.08.2022 12:10 Uhr

Sprinterin Rebekka Haase hat bei den European Championships offen über eine Post-Olympia-Depression gesprochen. Nach den verschobenen Sommerspielen im vergangenen Jahr traf das mentale Tief die Athleten härter denn je.

Von Bettina Lenner, München

Es gab Tage nach den Olympischen Spielen in Tokio, da schaffte es Rebekka Haase kaum bis zum Kühlschrank. Kochen, essen, Wäsche waschen - die alltäglichsten Dinge wurden zum Kraftakt für die Leistungssportlerin. "Du bist zu nichts mehr in der Lage und orientierungslos", schilderte die deutsche Top-Sprinterin. Die vergangene Hallensaison ließ sie aus: "Ich konnte mental nicht mehr."

Die große Leere nach Olympia

Post-Olympia-Depression. Kein unbekanntes Phänomen. Schwimm-Superstar Michael Phelps bezifferte die Zahl der betroffenen Olympia-Teilnehmer einst auf "gut 80 Prozent". Für die Sportler sind die Spiele das Nonplusultra; keine Bühne ist größer, kein Erfolg wichtiger. "Man richtet alles, was man hat auf dieses Ziel", so Haase. Und dann: vorbei. Leere. Der Antrieb: weg. "Es nimmt dir im ersten Moment alles, woran du arbeitest. Jede Grundlage. Das ist ja auch unsere Identität, unser Tun."

Corona-Pandemie verschärft die Situation

Nach den Sommerspielen im vergangenen Jahr traf das mentale Tief die Athleten härter denn je: Die Corona-Pandemie hatte die Situation verschärft. "Durch die Olympia-Verschiebung auf das Jahr 2021 ist die Anspannung geblieben, und das über komplett zwei Jahre. Die Athleten sind mental nicht runtergekommen, weil sie wussten, ich mache immer noch alles für Olympia", erläuterte Tanja Damaske im Gespräch mit Sportschau.de.

Wenn man so lange unter Spannung ist, dann kommt der Punkt, wo man einfach nicht mehr kann.
DLV-Psychologin Tanja Damaske

Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Burn-out. Haase war an diesem Punkt, fiel ins Bodenlose - und holte sich bei Damaske Hilfe, die als Psychologin im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) arbeitet. Nach Tokio hätten sehr viele Sportler den Kontakt gesucht, sagte die Speerwurf-Europameisterin von 1998. "Der Zustand war bei vielen ähnlich. Sie berichteten, dass sie wochenlang nicht aus dem Bett gestiegen, nicht vor die Tür, nicht ans Telefon gegangen seien - und gar nicht wussten, was los ist."

Prozess war "hart, heftig und eklig"

Die Erleichterung darüber, dass es auch anderen so ergeht wie ihr, war der erste Schritt für Haase in einem Prozess, den sie selbst als "hart, heftig und eklig" beschreibt. Aufklärung, darüber reden, der Erscheinung ein Stück Normalität geben. Und dann dafür sorgen, dass es wie im körperlichen Training Entlastungsphasen gibt. So schildert Damaske den Weg aus der Krise, der aber auch individuell verschieden ist. Ebenso wie die Symptome.

Es dauerte eine Weile, bis Rebekka Haase ihre inneren Dämonen im Griff hatte. "Wir mussten erst einmal Ursachenforschung betreiben. Ich konnte erst ab März wieder rennen und mich auf die Sommersaison vorbereiten. Ich habe diese Zeit gebraucht", betonte die 29-Jährige.

Hilfe bei Depressionen

Telefonseelsorge: anonyme, kostenlose Beratung rund um die Uhr:
Tel. (0800) 111 0 111 oder (0800) 111 0 222

Kinder- und Jugendtelefon "Nummer gegen Kummer": kostenlose Beratung:
Tel. 116 111. Elterntelefon: (0800) 111 05 50

Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: Tel. (0800) 33 44 533

Ärztlicher Bereitschaftsdienst der Krankenkassen: 116 117

Die Hingabe, die Opferbereitschaft und schließlich die Erschöpfung nach Olympischen Spielen - jüngere Athleten könnten "über solch einen Punkt drübergehen", so die zweimalige Staffel-EM-Dritte vom Sprintteam Wetzlar. Sehr viele seien aber eben beim Höhepunkt ein Jahr nach Olympia "noch nicht wirklich bereit dafür".

Gefühlt zwei Olympia-Jahre in Folge

Auch das, mutmaßte Haase, könnte unter anderem ein Grund für das schwache Abschneiden der deutschen Leichtathleten bei der WM in Eugene vor drei Wochen mit nur zwei Medaillen sein. "Es ist wirklich schwierig, in einem nacholympischen Jahr wieder auf der Bahn zu stehen." Erst recht nach gefühlt zwei Olympia-Jahren in Folge.

Weitere Medaille in München?

Haase hat das Problem erkannt und gebannt, die Leere überwunden. Bei der WM in Eugene sprintete sie mit der DLV-Staffel grandios zu Bronze. Mit dem Erfolg im Rücken fühlte sie sich stark genug, bei den European Championships über ihren mentalen Kampf zu berichten: "Das ist ja erst einmal auch mit Scham verbunden." Nun genießt sie die Atmosphäre bei der Heim-EM in München - und greift mit dem DLV-Quartett erneut nach einer Medaille. Es wäre eine weitere Belohnung für eine in jeder Hinsicht herausfordernde Zeit.