Frank Busemanns EM-Kolumne Gänsehaut und Begeisterung: "Medaillen sind sexy"

Stand: 21.08.2022 08:03 Uhr

Die European Championships in München begeistern die Fans. Auch ARD-Leichtathletikexperte Frank Busemann kann sich dem Charme des Events nicht entziehen. Warum? Der Versuch einer Erklärung.

Von Frank Busemann

Gänsehaut. Lärm. Begeisterung. Diese Kolumne ist fertig. Man kann das, was in München derzeit passiert nicht in Worte fassen. Also, bis morgen.

Ich will es aber versuchen. Weil es so einzigartig ist. Der Noisedesigner des Münchener Olympiastadions hat beim Entwurf dieser Schüssel vor über 50 Jahren alles richtig gemacht. Man sollte meinen, dass in diesem offenen Ding die Dezibelwellen nach oben verpuffen und aufgrund der gigantösen Ausmaße der Schall seinen Weg bis in den Innenraum gar nicht findet. Doch weit gefehlt.

Ein Event, das man nur einmal im Leben erlebt

Die Zuschauer machen dieses Event zu einem besonderen und nun versteht man die Athleten, die die Championships in München als ihren heimlichen Saisonhöhepunkt öffentlich propagiert haben. So etwas erlebt man nur einmal im Leben. Wenn man dabei war. Und alle, die das Ziel erreichen, grinsen glückselig ins Mikro und danken den Menschen, die dieses Fest zum Fest werden lassen.

Es ist ein Geben und Nehmen und beide Seiten der Bande befruchten sich gegenseitig. Ohne Leistung, keine Stimmung, ohne Stimmung, keine Leistung. Doch wer hat nun angefangen? Das Huhn oder das Ei? Egal. Es ist so und das ist gut so. Kopf ausschalten. Genießen.

Medaillen sind sexy

Legt man die WM in Eugene zugrunde, dann macht der Heimvorteil gefühlt zehn Prozent aus. Und das sind Welten in der Welt des Leistungssports. Die Athleten scheinen in Gänze wie ausgewechselt. Kritiker mögen monieren, dass mehr als die halbe Welt bei diesen Titelkämpfen fehlt.

Stimmt. Und? Es ist egal. Wir feiern lieber eine Medaille in Europa, als eine Abreibung auf Weltniveau. Einmal mehr sehen wir, das Medaillen sexy sind. So muss das sein. Die Athleten saugen es auf und danken mit Leistung.

Herausforderung für Athletinnen und Athleten

Aber mit dieser Euphorie müssen die Sporttreibenden erst einmal umgehen. Wenn das Disconiveau bei Vorstellung bei weitem überschritten wird, dann kann die Feinmotorik mitunter in Mitleidenschaft gezogen werden. Überpace ich oder bin ich gelähmt? Konzentriere ich mich auf den Punkt oder sauge ich alles ein? Habe ich den Fokus nach außen oder nach innen? Am besten alles zusammen.

Gar nicht so einfach, wenn man deutsche Meisterschaften vor gefühlt 38 Leuten macht. Aber man muss es auch mögen, im Fokus zu stehen. Ariane Friedrich brachte vor ihrem entscheidenden Sprung bei der WM in Berlin 2009 das tosende Publikum mit einem Finger an den Lippen zum Schweigen. 50.000 Ausrastende wurden zu 50.000 Schweigenden. Mit einem Finger. In drei Sekunden. Sowas schaffen nur Showmaster, Rockstars oder Diktatoren.

Aber diesen Fokus finde ich persönlich noch viel schlimmer. Dann weiß die Athletin nämlich, okay, die haben mich gesehen und alle - ALLE schauen jetzt auf mich. MICH. Oh oh. Auch irgendwie beängstigend. Wenn die alle durcheinander schreien, könnte man meinen, die feiern 'ne Party und man selbst nutzt die Atmosphäre.

Geschichten für die Enkel

Aber was bedeutet das jetzt für die Zukunft? Können wir dieses Erlebnis nutzen? Die Sportler profitieren noch in 30 Jahren von diesem Erlebnis. Sie werden ihren Enkeln von den sieben Tagen von München erzählen und die denken, es ist Märchenstunde. Damals 2022.

Die Zuschauer schwärmen bestimmt noch in zehn Jahren von diesem Fest – oder sind es nur zehn Tage, weil die Stimmungskonkurrenz einfach zu groß ist und der Konsum der Menschen zu schnelllebig ist? Wir wissen es nicht.

München ist magisch

Wir können nur hoffen, dass sich im weiten Rund ein paar Kinder und Jugendliche dieses Erlebnis zunutze machen und den Weg zum Sport finden oder ihn festigen. Wir können nur hoffen, dass die Menschen vor Ort mit einem positiven Gefühl nach Hause gehen und auch nachhaltig davon schwärmen. Geschichten und Gefühle schlagen immer die Fakten. Was wir hier erlebt haben ist magisch.

Es kann nicht mehr besser werden

Aber wir sind uns auch einig, dass wir diesem Sport nun eigentlich den Rücken kehren könnten, weil es sowieso nie mehr besser wird. Werden kann. Da geht nichts mehr drüber. Nie mehr. Eigentlich. Oder?

Das ist Frank Busemann

Geboren:
26. Februar 1975 (Recklinghausen)
Disziplinen:
Zehnkampf, Hürdensprint
Sportliche Erfolge:
Olympia-Silber 1996 (8.706 Punkte)
WM-Bronze 1997 (8.652 Punkte)
U23-Europameister 110 m Hürden 1997 (13,54 Sek.)
Juniorenweltmeister 110 m Hürden 1994 (13,47 Sek.)
Auszeichnungen:
Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis 2004
Sportler des Jahres 1996
Karriereende:
23. Juni 2003
Karriere nach der Karriere:
Vorträge/Seminare zum Thema Motivation
Buch-Autor
ARD-Leichtathletik-Experte
(Morgenmagazin, Das Erste, sportschau.de)