ARD-Moderator Frank Busemann
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European Championships Busemanns EM-Orakel - die Laufwettbewerbe

Stand: 15.08.2022 08:00 Uhr

Heimläuferinnen, Hoffnungsträger und solche, die es noch werden möchten - die Lauf-EM-Vorschau von ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann.

Von Frank Busemann

800 Meter: Wenn die EM zur Kreismeisterschaft wird

Jake Wightman, der Weltmeister über 1500 Meter, versucht sich in der Unterdistanz. Briten können sowas. Wir dürfen auf seine Zeit gespannt sein, zumal er in dieser Saison nur auf Platz 11 in seiner nationalen Bestenliste zu finden ist. Seine Bestleistung von 1:44,18 Minuten aus dem Coronajahr zeigt aber seine Möglichkeiten. Sein Landsmann und Jahresschnellster Max Burgin wird auch nicht zugegen sein, so dass der einzige Europäer im WM-Finale, der Franzose Gabriel Tual, die Favoritenrolle übernimmt.

Marc Reuther kann in München etwas entspannter in den Vorlauf gehen und muss nicht mit der Brechstange taktische Scharmützel heraufbeschwören. Für Christoph Kessler geht es ebenfalls darum, den Vorlauf taktisch klug zu überstehen.

Die 800 Meter der Frauen sind für Christina Hering sowas wie Kreismeisterschaften. Die Münchnerin wird wie Majtie Kolberg ins Halbfinale einziehen. Für Tanja Spill geht es darum, Erfahrungen zu sammeln und ganz unbeschwert den Lauf zu genießen. Vorne geht die Post in einem entspannten Läufchen für Keely Hodgkinson ab, die das Feld nach WM-Silber kontinental nach Belieben beherrschen wird.   

1500 Meter: Katharina Trost und Hanna Klein könnten München überraschen

Die Hatz der dreidreiviertel Runden wird irgendwie spannend. Fünf Europäer lagen bei der WM auf den ersten fünf Plätzen. Wo war Afrika? Dahinter. Das ist mehr als außergewöhnlich, zeigt aber auch die Klasse der Europäer. Weltmeister Wightman versucht sich hier etwas kürzer, das eröffnet für alle anderen ganz neue Perspektiven. Allen voran Olympiasieger Jakob Ingebrigtsen. Das hat ihn schon gewurmt, dass er nur Zweiter wurde. In München soll das alte Machtgefüge wieder hergestellt werden.

Hier treffen sich die deutschen Langtreter auf "anderen" Strecken. Christoph Kessler kann auch die Unterdistanz, ist hier Deutscher Meister und Mohamed Mohumed kann etatmäßig eher die Überdistanz in Form von 5000 Meter. Aber ein knackiger Endspurt ist immer von Vorteil. Nach enttäuschendem Abschneiden von Eugene wagt er vielleicht den Doppelstart. Beide könnten sogar ins Finale einziehen.

Bei den Frauen haben die beiden WM-Starterinnen Katharina Trost und Hanna Klein mit dem Einzug ins Halbfinale und tollen Leistungen Spaß gemacht. Jetzt bleibt abzuwarten, ob sie da noch einen draufsetzen können oder die Leistung zumindest bestätigen. Dann können sie ins Finale kommen. München wäre aus dem Häuschen.

Topfavoritin ist und bleibt die WM-Dritte Laura Muir aus Großbritannien, die mit WM, Commonwealth-Games (ein eher lockeres Training im Trikot für sie) und EM aber ein strammes Programm hat. Und was macht eigentlich Sifan Hassan? Auf welcher ihrer drei Strecken tritt sie letztlich an? Die Olympiasiegerin schnitt nach spätem Saisoneinstieg nicht zufriedenstellend in Eugene ab und pocht auf Wiedergutmachung. Doch wie viel Puffer hat sie? Die 1500 Meter mit Muir sind nicht empfehlenswert.

5000 Meter: Mohamed Mohumed - auch eine Medaille ist möglich

Die 5000 Meter sind die Strecke des Mohamed Mohumed. Die zweitbeste Zeit eines Deutschen lief er in diesem Jahr. Umso enttäuschender war sein Lauf in Eugene, der ihn ratlos zurückließ und ihn noch im Ziel zu einem Coronatest veranlasste. Hat er alle seine Kräfte beisammen, kann er mit etwas Glück sogar um die Medaillen mitlaufen. Mit etwas Pech wird es aber auch Platz 8. Es ist eng und drubbelig da vorn.

Weltmeister Ingebrigtsen wird nichts anbrennen lassen, aber dann muss Mohumed das Erlernte der vergangenen Jahre ausspielen. Wenn er denn den Schock von Eugene überwunden hat. Sam Parsons machte schon im Vorlauf von Eugene eine Menge Spaß und wird mit seinem Optimismus und seiner Einstellung dem Team gut tun. Davon profitieren kann auch Davor Aaron Bienenfeld, der im Vorlauf schon Finale hat.

Spannend wird sein, welche Strecke letztlich Konstanze Klosterhalfen laufen wird. Nach der Corona-Infektion hat sie sich in Eugene für die kürzere entschieden, aber die Schwächung war ihr anzumerken. Aufgrund der Vorgeschichte kann es in München schon etwas besser laufen, aber man sollte sich nicht allzu großer Illusionen hingeben, dass es ein wahrer Kraftakt wird, hier zu performen.

Sara Benfares hat an Eugene auch nicht allerbeste Erinnerungen, als sie im Ziel entkräftet zusammenbrach und in München auf Wiedergutmachung und mehr Genuss hofft. Einzig Alina Reh lief im Rahmen ihrer Möglichkeiten und kann mit Klosterhalfen ins Finale einziehen, dass Grovdal, Can und Hassan ausfechten werden.  

10.000 Meter: Klug laufen, das ist die Devise

Die drei Deutschen Filmon Abraham, Samuel Fitwi Sibhatu und Nils Voigt müssen sich mit Hilfe des Publikums auf eine Zeit unter 28 Minuten einschießen und müssen bei der Medaillenhatz von Crippa, Scott und Kimeli klug laufen und Lücken nicht zu groß werden lassen. Glücklicherweise sind sie zu dritt und haben alle ein ähnliches Leistungsvermögen.

Nachdem Eilish McColgan die Commonwealth Spiele gewonnen hat, geht sie mit Hassan als Topfavoritin ins Rennen. Unterschiedlicher könnten die beiden nicht sein, doch vereinen sie schnelle Zeiten. Hassans Vorteil ist ihre Spurtstärke und das taktische Geplänkel von Meisterschaftsrennen und das ohne afrikanische Beteiligung. Aber McColgan rennt auch gern ihren Stiefel von vorne. Ob sich Klosterhalfen die Doppelbelastung antut? Eher nicht. Wir werden sehen.

Alina Reh läuft in die TOP 8 und wird nach ihrer Herzmuskelentzündung zu Anfang des Jahres wieder ein Mosaiksteinchen in ihr tolles Repertoire einfügen. Welche Strecke Marathonläuferin Katharina Steinruck in Angriff nimmt, hält sie sich bin zuletzt offen. Das macht sie auch vom Wetter abhängig. Nominiert ist sie auf beiden Strecken.

Marathon: Amanal Petros - tiefer Schluck aus der Marathonpulle

Wir freuen uns auf die Rückkehr des deutschen Rekordhalters Amanal Petros, der in München nach seinem fulminanten Lauf im Dezember wieder einen tiefen Schluck aus der Marathonpulle nimmt. Was hat er drauf? Das weiß nur er und am 15.08.22 die Straße zur Mittagszeit. Das kann warm werden und hart, aber Zeiten sind bei Meisterschaften eher sekundär und die Abhärtung hat er sich im Trainingslager in Kenia geholt.

Wenn alles glatt läuft, kann er in die TOP 8 kommen. Simon Boch und Richard Ringer haben mit starken Qualifikationszeiten Duftmarken absetzen können. Was diese wert sind und ob sie wieder in diesen Bereich kommen können wird sich zeigen.

Miriam Dattke, Katharina Steinruck und Domenika Mayer werden im Einzel an den Start gehen. Tendenziell sollte Steinruck eher im Marathon zu finden sein, da die Mannschaftswertung hier auch ein Bonbon für Nationen mit mehreren Starterinnen darstellt. Dattke und Mayer haben mit tollen Zeiten von jeweils 2:26,50 Stunden zu Beginn des Jahres aufhorchen lassen und deuten an, was sie können. Je nach Rennverlauf können sie Kontakt nach oben aufnehmen. Da muss viel zusammen passen, aber die anderen müssen auch erst einmal da sein, durchkommen, schnell laufen.

Gehen: Jonathan Hilberts Herausforderung am "kurzen Langen"

Für Christopher Linke war Eugene ein Desaster. Erst hatte er mit eigentlich guter Form das Tempo beim Zwanziger nicht gefunden, dann hat ihn das Corona-Virus heimgesucht und er konnte im langen Marsch nicht auf die Piste. Was das bedeutet, kann man an anderen Ausdauersportlern beobachten. Es wird nicht leicht in München. Eigentlich war alles angerichtet. Eigentlich. Hier versucht er sich im 35er. Drücken wir ihm die Daumen, dass seine Form noch oder wieder da ist oder nicht weg war oder was auch immer, dass er gut durchkommt.

Wieder da ist der Olympische Silbermedaillengewinner von Tokio über 50km, Jonathan Hilbert. Wir freuen uns so. Er sich auch. Was hat er über den "kurzen Langen" drauf? Es ist vermessen, von einer Medaille zu reden. Tun wir nicht. Obwohl das immer Spaß macht, das verbietet sich hier aber. Silver-Joni is back, und das ist gut so. Carl Dohmann macht das lange Team voll und alle drei haben das Potential in die Top 10 zu marschieren. Nicht alle drei zusammen, aber jeder einzeln.

Über die 20km bilden die Routiniers Nils Brembach und Karl Junghannß sowie Tokio-Starter Leo Köpp das deutsche Trio. Für die beiden Erstgenannten ist ein Blick nach vorne realistisch und erlaubt. Und vielleicht geht ja nach diversen vierten und fünften Plätzen deutscher Geher was?!

3000 Meter Hindernis: Frederik Ruppert - in Schlagdistanz zu den Medaillen

Die deutschen Männer konnten durch die WM-Teilnahme in Eugene viel lernen und werden das in München beherzt umsetzen können. Frederik Ruppert steht mit seiner Vorleistung von 8:15 Minuten sogar auf Platz vier der diesjährigen Bestenliste und wäre auf dem Papier zumindest in Schlagdistanz zu den Medaillen. Das zeigt, was zu leisten er im Stande ist, allerdings wäre der Einzug ins Finale genauso wie für Karl Bebendorf der erhoffte und realistische Erfolg in dieser Saison.

Niklas Buchholz hat sich in diesem Jahr stark verbessert und wird mit der Nominierung belohnt. Im WM-Finale zu finden waren der Spanier Daniel Arce auf Platz 9 und der Italiener Ahmde Abdelwahed auf 12, was sie auch zu den ersten Anwärtern auf Gold werden lässt.

Da tat allein das Zusehen weh, als sich DIE deutsche Hindernisikone schlechthin im WM-Finale mühsam ins Ziel schleppte. Kurz vor München sagte sie einen Start ab, der Körper lässt es nicht zu. Für Lea Meyer und ihren spektakulären Sturz am Wassergraben sollte München Seelenbalsam werden. Aber eine Coronainfektion nach der WM durchkreuzt ihr Pläne. Was das Virus für Ausdauersportlerinnen bedeutet wissen wir. Sie entscheidet kurzfristig.

Aufopferungsvoll kämpfen kann sie, das hat sie eindrucksvoll bewiesen, es wäre ihr zu wünschen, dass sie den Sprung nach München schafft. Elena Burkhard und Olivia Gürth komplettieren das Trio nach dem Ausfall von Titelverteidigerin Krause. Mit etwas Puffer zu den anderen wird Albaniens WM-Fünfte Luiza Gega als Favoritin ins Rennen gehen.