Stefanie von Berge

Boxen | Frauen-WM Box-WM der Frauen: Talent im Ring, Vorwürfe im Raum

Stand: 04.05.2022 11:39 Uhr

In Istanbul startet am kommenden Montag (09.05.2022) die Weltmeisterschaft der Frauen im olympischen Boxen. Der Kader des deutschen Verbands ist talentiert. Doch die bestimmenden Themen sind andere.

Von Jens Walbrodt

Ornella Wahner atmete tief. Die drei zurückliegenden Runden hatten sichtlich Kraft gekostet. Nervös tippelte sie vom linken auf den rechten Fuß. Dann endlich die Worte des Ringspreches: "Die Gewinnerin… in der blauen Ecke...".

Der kindliche Jubel, die unbändige Freude – all das liegt fast vier Jahre zurück. Gold bei der Weltmeisterschaft in Neu Delhi – das erste für eine deutsche Teilnehmerin überhaupt. Aushängeschilder im olympischen Boxen in Deutschland waren plötzlich Frauen.

Hoffnungen erfüllten sich nicht

Doch Formschwächen und Corona sorgten dafür, dass weitere große Medaillenträume unerfüllt blieben. Die zweifache WM-Bronze-Gewinnerin Nadine Apetz war die erste deutsche Boxerin, die sich für Olympia qualifizieren konnte – allerdings war sie auch die einzige deutsche Teilnehmerin dort. Sie schied in Tokio schon in ihrem ersten Kampf im Achtelfinale aus und beendete ihre Karriere. Ein Umbruch im Kader wurde nötig.

Umbruch im Elite-Kader der Boxerinnen

"Die kommende Weltmeisterschaft sehen wir auch als Test, da sie keine Auswirkungen auf die Olympiaqualifikation hat", sagt Michael Müller, der Sportdirektor des deutschen Boxsportverbands im Sportschau-Interview. Die Wettkämpfe in Istanbul beginnen am 9. Mai. "Es geht für die Athletinnen in erster Linie darum, Erfahrungen zu sammeln."

Die meisten im Kader kämpften bis vor kurzem im Nachwuchsbereich. Die Auswahl ist talentiert: "In der einen oder anderen Gewichtsklasse kann es mit ein bisschen Glück etwas weiter gehen", sagt der Sportdirektor. "Und ich gehe davon aus, dass bis zu vier Athletinnen die Qualifikation für Olympia in Paris schaffen können. Mindestens eine könnte dort gute Medaillenchancen haben." 

Ergebnisse machen Hoffnung

Stefanie von Berge aus Köln hat Ihre Fähigkeiten im Erwachsenenbereich schon unter Beweis gestellt. Bei ihrem ersten Turnier außerhalb der Juniorinnen, dem renommierten "Strandja-Tournament" in Bulgarien, erreichte sie direkt das Finale. "Ich bin zwar jung, aber ich habe schon viele Kämpfe gemacht", sagt die zweimalige U22-Europameisterin selbstbewusst im Sportschau-Interview. "Ich bin auch körperlich im Erwachsenenbereich angekommen und möchte mich jetzt auf der großen Bühne beweisen."

Schwere Vorwürfe überschatten die Vorbereitung

Sportlich schauen die Frauen im olympischen Boxen in Deutschland zuversichtlich in die Zukunft. Doch die Schlagzeilen der jüngeren Vergangenheit bestimmten andere Themen. Sarah Scheurich war jahrelang eine der erfolgreichsten Boxerinnen in Deutschland. Seit etwa zwei Jahren ist sie die härteste Kritikerin des Boxverbands. Sie erhob mehrfach öffentlich heftige Vorwürfe und berichtete von frauenfeindlichen Strukturen, sexualisierter Gewalt, Übergriffen und Unterdrückung der Meinungsfreiheit.

Stefanie von Berge kann die Vorwürfe von Sarah Scheurich nicht bestätigen: "Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, sind positiv. Wir werden gleich bezahlt wie die Männer, und ich bin insgesamt mit der Situation zufrieden", sagt sie. Von Berge wurde Ende des vergangenen Jahres zur Aktivensprecherin gewählt. "Aber vielleicht haben andere Athletinnen auch andere Erfahrungen gemacht".

Der Verband steht unter Druck

Der Verband widerspricht den Vorwürfen energisch und sieht sich insgesamt gut aufgestellt: "Wir haben eine moderne neue Satzung, die von der Führungsakademie des Deutschen Olympischen Sportbunds bestätigt wurde", so Müller. "Und Fördergruppenplätze und Gelder werden genau 50/50 zwischen Männern und Frauen verteilt. Wenn die Behauptungen wahr wären, stünde der Verband doch in Flammen".

Reformbedarf bleibt deutlich

Die Vorwürfe lasten trotz aller Beteuerungen schwer auf dem Sport. Und beim Blick von außen sticht das Reformpotenzial ins Auge: Zusammengerechnet werden 23 Positionen im Vorstand des Boxverbands aufgeführt. Nur zwei davon bekleiden Frauen, eine dieser beiden ist Aktivensprecherin Stefanie von Berge.

"Wir haben auch Nadine Apetz angeboten, nach der Sportlerinnenlaufbahn in den Gremien mitzuarbeiten. Und es ist uns gelungen, die erste hauptamtliche Trainerin am Stützpunkt Schwerin unter Vertrag zu bringen", sagt Michael Müller. "Wir versuchen alles, um Frauen zu gewinnen, vor allem für Aufgaben nach der Karriere. Aber das ist nichts, was man erzwingen kann."

Eine Trainerin im Elitebereich ist zweifellos ein Schritt nach vorn. Und die Zahl qualifizierter Trainerinnen im Boxen ist deutlich geringer als die Zahl der männlichen Coaches. Ambitioniert wirkt das Ganze trotzdem nicht, vor allem im Kontext der geäußerten Vorwürfe.

Strukturen weiter anpassen

Die Weltmeisterschaft in Istanbul kann der Start in eine sportlich erfolgreiche Zukunft der Boxerinnen aus Deutschland sein. Strukturell gibt es weiteren Nachholbedarf. Dann bestimmt in Zukunft vielleicht wieder der Sport die Schlagzeilen über das olympische Boxen der Frauen. Die Athletinnen würde es sicher freuen.